Anhand des materialistischen Philosophen Epikur, der diese Lüste als Erster betont hat, könnte nun eine kritisch-dialektische Auseinandersetzung erfolgen. Doch diese unterbleibt. Nicht Epikur wird zitiert, sondern nur ein Schriftsteller, der ca. 600 Jahre nach ihm schrieb. Da dieser Zitate von Epikur zuspitzte, gerät die ganze Abhandlung in die Defensive und bleibt letztlich unentschieden zwischen den Lüsten des Körpers und dem sittlich und moralisch Guten stecken. Als Conclusio lässt sich formulieren, dass Slow Food die früheren Philosophen nicht brauche, da in 20-jähriger Tätigkeit eine eigene Philosophie entwickelt worden sei.
Im Slow-Food-Jahrbuch, dem Almanach von 2008, verfasste Alberto Capatti, seines Zeichens „Italiener, Prof. für die Geschichte der Küche und der Gastronomie an der Universität der Gastronomischen Wissenschaften in Pollenzo", einen Artikel „Was Epikur lehrt".(1) Die Frage ergab sich für Slow Food, gleichsam stellvertretend für alle, die eine Idee „des Genusses" zu leben versuchen und sich angesichts eines potenziellen Hedonismusvorwurfs über die Legitimität dieses Vorhabens Gedanken machen. Da gegen Epikur (341-270 v.Chr.) schon von Zeitgenossen und erst recht von christlichen Autoren derartige Bezichtigungen erhoben wurden, rückt seine Philosophie ins Blickfeld. Dem Titel nach könnte der Artikel von Capatti somit exemplarisch das Problem abhandeln und darüber die Leitideen von und für Slow Food nachzeichnen. Über die Auseinandersetzung mit beiden Texten ließe sich die Thematik dialektisch weiterbringen.
Solche Erwartungen werden von Anfang an enttäuscht. Eine schauderhafte Übersetzung aus dem Italienischen erzeugt Dunkelheit: wenn also im Folgenden Passagen unverständlich bleiben, resultiert dies daraus.(2) Zudem beginnt Capatti mit einem Zitat des Schriftstellers Athenaios, der zu Beginn des 3. Jahrhunderts, mithin 600 Jahre nach Epikur, ein „Gelehrtengastmahl" verfasste und darin „eine bunte Sammlung gelehrter Bemerkungen ... aus der hellenistischen Literatur" bietet.(3) Athenaois schrieb also, frei nach Epikur: „Der Anfang und die Wurzel allen Guten ist die Lust des Bauches. Denn auch die gelehrten und hochgestochenen Dinge beziehen sich auf sie zurück."(4) Dieses Zitat ist nach Capatti „mit den Größen der christlichen Kultur nur schwer verständlich".(5) Die Lust des Bauches als „gelehrt und hochgestochen" zu definieren, bedeutet für Capatti „Gehirn und das Denken auf die Probe der Sinne" zu stellen. „An der Wurzel" „alles Guten" stünden dann „Suche, Verkostung, Genuss und Verdauung der Lebensmittel". Das aber wiederum hieße „das erste Paradoxon zu überschreiten und eine Übung der Moral ohne weitere innere Bedeutung zu erreichen, die nicht vom guten Essen käme". „Kein Philosoph war je so radikal und polemisch".(6)
Versuchen wir einmal eine erste Exegese, dann könnte Capatti meinen, dass diese Moral nur auf „gutem Essen" beruhe, und das wäre zumindest - damals wie heute -provokant. Nur - wer ist dieser radikale Philosoph? Das Zitat stammt von Athenaios, der kein Philosoph war. Es findet sich so nicht bei Epikur.(7)
Freilich: „die Idee des Genusses ... bei Slow Food" habe „nichts mit dieser Maxime gemein". Slow Food entwickelte eine eigene Idee des Genusses und „integrierte" diese, was es ermöglichte, „wieder zum Gedankengut von Schriftstellern wie Grimod de La Reynière und Brillat-Savarin zu finden, die tatsächlich überzeugt waren, dass die „Lust des Bauches" auch die Grundlage für das „Gelehrte und Hochgestochene" sei.(4) Die Denker betrachteten „die Sinne als prioritären Bereich des Denkens" gerichtet auf ein doppeltes Objekt, „ ... auf Tisch und Bett".(9) In „einer relativistischen Epoche" sei „die Radikalisierung des Denkens ein immanent kritischer Akt, der ebenso freiheitsfeindliche, wie utopistische Aspekte annehmen" könne.(10)
Das sind schon atem- und verstandesberaubende Wendungen. Da wird statt Epikur Athenaios zitiert, der Radikalismus der Aussage herausgestellt, um sich gleich davon zu distanzieren. Slow Food entwickelte eigene Vorstellungen von Genuss, die den Mitgliedern das gute Gefühl vermittelten, das ethisch Gute in dieser Vereinigung zu finden und verwirklichen zu können. Damit aber gelänge die Verbindung mit den gastrosophischen Denkern des 19. Jahrhunderts? Doch wenn sich diese auch nur „auf Tisch und Bett" bezogen, dann heißt der Anschluss, sich zwischen beiden Ebenen zu bewegen? Zudem befanden sich diese in einer „relativistischen Epoche"? Was heißt das? Sind also Slow-Food-Mitglieder kritische Denker, mit der Tendenz zu „Bett & Tisch" und/oder zu „freiheitsfeindlichen wie utopistischen" Entwürfen oder gar Lebensformen? Anscheinend ist das nicht überinterpretiert, denn: Eine „Vereinigung", die „sich nicht auf dieses Gelände wagt und von politischen Kalkül und demokratischen Strategien fernhält", ... „sich aber gleichwohl auf jene Lust des Bauches bezieht ... ist per se kurios."(11) Doch kuriose Revision: „ (...) nichts derlei und keine der anderen unschuldigeren Versuchungen wie Anbetung des Weines..." habe „sich konkretisiert". Die Lust des Bauches, „verstanden als Fundament für die Diskurse der Geselligkeit", habe sich „mit all ihrer kritischen Kraft auf die Lebensmittel gestürzt ... als Motiv unserer Verantwortung gegenüber anderen Menschen. Diese Lust des Bauches habe „die Bewegung von Dritte-Welt-Moralvorstellungen - von Untertänigkeit bis zum Altruismus - befreit, indem sie das Prinzip der Subjektivität wieder in die gastronomische Kultur einführte".(10) Slow-Food-Mitglieder seien damit nicht ihrer „Auffassung des Guten entfremdet" - aber vom Altruismus?
Der „lange Schritt" bis zum „Gedanken", es gebe keine „anderen Güter", könne vom „einfachen Schlemmer zu einem Verkoster und Interpreten besten Essens" führen, damit „eine Verbesserung der Produktion ... entwickeln", wo am Ende des Weges „die Gewissheit" stehe, „dass diese Lust, der Genuss, stillschweigend über alle anderen dominiert".(10) Da können sich alle Slow-Food-Mitglieder freuen: Ihr Bauch hat sich so subjektiv wie selbstverantwortungsbewusst von allen Ideologien getrennt - um sich der eigenen zuzuwenden, die sich gut hegelianisch emporentwickelt, bis am Gipfelpunkt der Genuss völlig zu sich selbst findet. Ende der Geschichte!(14)
Nein! Es bliebe noch etwa zu tun, nämlich die „scholastische Herausforderung", dieses „Epikur zugeschriebene Axiom(15) neu zu beweisen", doch angesichts „der großen Projekte ... des Vereins" unterbleibt das.(10) Die Frage stellte sich weiter, ob sich nicht alles „in einem einzigen Knoten treffen" könne, „dem der Lust, des Genusses?" Der Genuss „ist ein in jedem Moment des Lebens aktives Fluidum und die Lust des Bauches ... ihre durchlässigste Spezies".(17) Auch die utopischen Entwürfe von Charles Fourier,(18) mit „kulinarischen und Passionen", kämen für den Verein nicht in Betracht, sondern nur der auf ihn zurückgehende „Anspruch, der Gesellschaftsstruktur eine Form zu geben, indem neue Ideen, neue Prinzipien in Umlauf gebracht werden, von denen einige der Menschheit wohl bekannt sind, aber durch ihren Gebrauch verdorrt, beobachtet und begrenzt sind".(10) Bleibt das zentrale Problem des Hedonismus und das der Mitglieder mit „Lust, ... Genuss?" Deren „Verbannung" führte zur Tyrannei oder Sklaverei, aber „jede Vereinigung, die ihn einbezieht, wird vollkommen davon durchdrungen...". Das erbrächte „neue intellektuelle Formen" - und ohne die „Energie" der Lust „sterben wir aus".(10)
Also doch die herrlichen Verlockungen und Durchdringungen des Fleisches für die braven Mitglieder? „Tisch und Bett" und an beiden Orten unerhörte Lust und Intelligenz! Das wäre schon mehr, als De Sade propagierte. Ein spannendes Projekt, das der Bewegung viel Zustrom brächte. Doch: Nein! Keine Ausschweifungen, keine amourösen zumindest - aber vielleicht doch einige - uferlos-theoretische - Anregungen für eine neue Gesellschaftsstruktur: das alte Gute selektieren und reanimieren? Ach - doch wieder nur eine Renaissance ...? Welche Enttäuschung für die Gläubigen. Das mutet doch katholisch an.
Capatti setzt nochmals an: „Es ist natürlich tautologisch, dass eine gastronomische Gesellschaft sich vom Genuss inspirieren lässt, wobei untergeordnet andere konkurrierende, nicht impositive(21) Libidokategorien integriert werden." Aber diese Antwort genügt wieder nicht und neigt dazu zu demonstrieren, dass Epikur nach Athenaios ein Gastronom und kein Philosoph gewesen sein müsse, der mit seinen Schülern und anderen Sophisten zur Tafel saß, als er fallen ließ: „Ich spucke auf das sittlich Schöne und jene die es sinnlos anstaunen, wenn es keine Lust erzeugt." Ein solcher Satz räumt zwar „die Existenz eines sittlich Schönen" und entsprechend „tugendhafte Handlungen" ein. Doch er negiert „radikal einen stellvertretenden Altruismus". Die Tugend und das Gute sind der Lust „untergeordnet" und ohne sie „wirkungslos". Nur wenn der Mensch das Gute „sich selbst und seiner Lust zuschreibt, kann er mit und für andere handeln".(10)
Für Slow Food heißt das - und ich hoffe, es richtig verstanden zu haben -,„dass alle, die dazu gehören, die Verantwortung für den Genuss des Essens übernommen haben und auf das Priesteramt spucken".(23) Es geht bei Slow Food doch nicht ohne Genuss und damit nicht ohne eine gewisse, untergeordnete Libido. Immer nämlich müssen „die Tugend und das Gute" der Lust verantwortungsvoll, gemäßigt altruistisch, undoktrinär übergeordnet bleiben. Denn obige (Athenaios-)Zitate gehen nach Capatti etwas zu weit, verbal wie inhaltlich. Diese Bewegung will keine Sekte sein, mit Priesterämtern und Dogmen, aber andererseits: ohne gute Sitten kann sie nicht auskommen - und ohne Oberpriester? Und was wird hier denn vertreten - doch ein eigenes Dogma!
Capatti zufolge wollte Epikur Denkstoff liefern, „ohne für eine übertragende Anwendung seiner Worte verantwortlich zu sein".(10) „Wenn wir sie aussprechen, eignen wir uns einen Gedanken an, ohne ihn bis zum Grunde zu kennen, und er verwässert sich unserem so weit davon entfernten Denken. Ist es also wichtig ob ich ein Epikureer bin, wenn Epikurs Worte unsere sind?" Dann aber bin ich doch ein Epikureer?
Es kommt der „dritte Reflexionspunkt", mit dem „Paradoxon": „Ohne den Genuss - subjektiv wie kollektiv - hat diese (die Gastronomie, Anm. LK) keine Daseinsberechtigung, erhebt man sie aber zum Prinzip ihrer sozialen Funktion, fällt sie unter das Schwert von Zensur oder Verurteilung."(10) Dabei kann aber der Vorwurf des Hedonismus, des Exzesses auftreten ..., den „es zu vermeiden oder zu verbergen gilt". Als Antwort und Problemlösung änderte Slow Food „die Auffassung der Gastronomie selbst". Mit Wissen und Reflexion wird „das Prinzip des Genusses wieder" eingeführt und damit „die Gastronomie zum Ausdruck des Schönen (moralisch) und des Guten (sinnlich)".(26) Aber damit habe Epikur „natürlich nichts zu tun"!(27)
Hier ist Capatti voll zuzustimmen: Mit Epikur hat das alles nichts zu tun! Allenfalls mit einer athenaisischen Auffassung des 3. Jahrhunderts unserer Zeitrechnung - und der von Capatti, der Epikur nicht zitiert! Capatti will ein „Prinzip des Genusses wieder einführen, zum Ausdruck des Schönen und Guten". Dafür aber, so meint er, brauche man auf Epikur nicht mehr zurückzugreifen und auf die früheren Denkschulen samt den mit ihnen verbundenen negativen Konnotationen. Slow Food habe in einem langen, 20-jährigen Weg durch eigene „Instrumente des Wissens und qualifizierende Ziele" ein eigenes Prinzip des Genusses eingeführt. Dieses rechtfertigt diesen und die Mitglieder der Bewegung. Der ganze vorige Aufwand wurde getrieben, um zu diesem Satz zu kommen! Es ließe sich summieren: Was die Bewegung macht, ist per se Ausdruck des moralisch Schönen, sinnlich Guten. Das erübrigt weitere Explikationen.
Die Motivation für den Artikel könnte darin liegen, dass eine Vereinigung wie Slow Food, die den Genuss von Lebensmitteln propagiert, fürchtet, in den Verruf eines Hedonismus zu kommen. Das wäre die „Lust des Bauches", welche auch die „gelehrten Dinge", das edle Streben der Vereinigung, dominierte. Dem muss diese entgegentreten. Unter der Hand aber stellt sich eine 2300 Jahre alte Kontinuität her, denn schon Epikur und seine Anhänger sahen sich mit diesen Vorwürfen konfrontiert. Auch Athenaios, 600 Jahre später, reagierte in seinem „Gelehrtengastmahl" auf zeitgenössische Anfeindungen gegen Epikureer. Die Frage erhebt sich zu Recht, ob man diese alten Schlachten heute noch führen muss. Capatti meint: eigentlich Nein - und will das vorführen. Nur wie er es macht, erweckt Zweifel.
Warum er nie Epikur selbst zitiert, bleibt offen. Der Eingangssatz, wonach der Anfang und die Wurzeln alles Guten die Lust des Bauches sei, lässt sich im Brief an Menoikeus finden: „Gerade deshalb ist die Lust, wie wir sagen, Ursprung und Ziel des glücklichen Lebens."(28) Allerdings findet sich der zweite Teil des Eingangszitats explizit nicht bei Epikur. Der relativiert sogar; die Lust sei „erstes und angeborenes Gut", von ihr aus beginne das „Wählen und Meiden", sie sei Beurteilungskriterium.(29) Nicht jede Lust wird gewählt, nicht jede ist wählenswert. Er sagt in c. 131, es seien nicht „die Lüste der Hemmungslosen" gemeint und „jene, die im Genuss bestehen, wie einige, die dies nicht trennen und nicht eingestehen oder böswillig auffassen, annehmen". „Denn nicht Trinkgelage und aneinander gereihte Umzüge, auch nicht das Genießen von Knaben und Frauen, von Fischen und allem Übrigen, was eine aufwendige Tafel bietet, erzeugen das lustvolle Leben, sondern ein nüchterner Verstand, der die Gründe für jedes Wählen und Meiden aufspürt und die bloßen Vermutungen vertreibt, von denen aus die häufigste Erschütterung auf die Seelen übergreift ... Für all dies ist die Einsicht Ursprung und höchstes Gut ... Denn es ist nicht möglich, lustvoll zu leben, ohne einsichtsvoll, vollkommen und gerecht zu leben ..."(30)
Das zweite Zitat, das Capatti bringt, stammt aus einem Brieffragment Anaxarchos´ und es relativiert sich wieder durch den Kontext, der dabei unberücksichtigt blieb.(31) Hierin erweist sich das eigentliche Problem des Artikels von Capatti. Weil er mit einem zugespitzten Zitat von Athenaios beginnt, es in keinen Kontext einbettet, gerät er in die Defensive. Da er weiter die Verbindung von Genuss mit der potenziell dominierenden „Lust des Bauches" problematisch sieht, sich ihm die moralische Frage stellt, ob eine derartige Schlemmerei zu verbergen oder zu strafen „sei"? Der Aufsatz zeigt auf der einen Seite, dass es für Slow Food noch Rechtfertigungszwänge für ihr Tun gibt - und auf der anderen, wie man sich dieser zu entheben versucht.(32) Das aber verdient Aufmerksamkeit, denn kaum begründet, nicht argumentiert, schlechtest formuliert erscheint hier ein eigenes Dogma. Das bleibt zu befragen. Deutlich wird, wie es hier zustande kommt: Mit Athenaios wird ein Popanz aufgebaut, den zu bewältigen bzw. zu beseitigen unangemessen viel Mühe und Aufwand bereitet. Statt sich Epikur zuzuwenden, sich auf dessen Schriften zu stützen, werden hier spätere Zitate gebracht. Dadurch scheinen die von den Gegnern Epikurs gebrachten Vorwürfe eher begründet und verständlich.
Die Titelfrage lässt sich am Ende hier zumindest klar und kurz beantworten: „Was Epikur lehrt?" Nichts!
Von Epikur ist nicht die Rede. Slow Food braucht solche Philosophen nicht, denn es entwickelt die Weisheit aus sich selbst. So muss der Titel eigentlich lauten: „Was Slow Food lehrt"