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Epikurs Gemüsegarten und seine philosophischen Früchte

LEMKE Harald.   

Von keinem anderen Philosophen ist der gastrosophische Gedanke einer Weisheit des guten Essens ausdrücklicher formuliert worden als von Epikur.

Die epikureische Glückslehre besagt: „Anfang und Wurzel alles Guten ist die Freude des Magens; selbst Weisheit und alles, was noch über sie hinausgeht, steht in Beziehung zu ihr." (Philosophie der Freude, Nr. 5) Mit der Würdigung der Weisheit (sophia) des Magens (gastér bzw. gastro-) erhebt Epikur das Gastrosophische zum höchsten Guten einer lustvollen Vernunft. Über die Jahrhunderte wurde Epikur dafür von Zeitgenossen, aber auch von Moralisten verschiedener Richtungen angegriffen. Mit seiner ungewöhnlichen Vernunftidee vertieft Epikur das gastrosophische Denken von Sokrates (vgl. Lemke, Ethik des guten Essens) und stellt dessen Ansätze zu einer Ethik des guten Essens in das Zentrum seines ‹Hedonismus›.


Epikurs Gemüsegarten und seine philosophischen Früchte(1)

Tatsächlich bezeichnet der griechische Terminus hedoné (lat. voluptas) dem ursprünglichen Wortsinn nach speziell die Gaumenfreude beziehungsweise die Wonne der Sättigung und Fülle oder die Lust am Wohlgeschmack einer Speise (vgl. Gigon/ Zimmermann, Begriffslexikon: 188). Zum gastrosophischen Ursprung der hedoné erinnert Baudy: „Der mit Nahrung gefüllte bzw. sich füllende Magen - die wohl alltäglichste Art, Lust zu gewinnen - erscheint als Urbild von Lust überhaupt, ja eines im Sinne der Erfüllung sich vollendenden Lebens. Umso verwunderlicher ist es, dass die einschlägigen Untersuchungen zur antiken Lustethik dem Nahrungsbegriff eine allenfalls beiläufige Aufmerksamkeit zollen." (Baudy, Metaphorik der Erfüllung: 8) Daher ist für eine Genealogie des gastrosophischen Denkens an diesem systematischen Zusammenhang von Lust und Essen bemerkenswert, dass Epikur den Grundgedanken seines Hedonismus, das sittlich höchste Gute liege in der Verwirklichung eines lustvollen Wohllebens, wesentlich über die Wohllust des Essens, über das gastrosophische Gute einer wohligen Fülle als erfülltes Gutes, bestimmt. Mit dem philosophischen Hedonismus der kulinarischen Lebensfreude artikuliert Epikur innerhalb der abendländischen Kulturgeschichte eine ebenso singuläre wie wirkungsmächtige Position. Während seine Philosophie das kulinarische Lustleben als ein ethisch guten Leben lehrt, vertreten Platon und Aristoteles zur gleichen Zeit die genau entgegengesetzte Weltanschauung: die Moral einer kulinarischen Lustverachtung (und das ethisch gute Leben des Geistes, der ‹geistigen Erfüllung›). Das heißt, die für die Geschichte der abendländischen Philosophie folgenreiche Differenz zwischen Epikurs Hedonismus und dem platonisch-aristotelischen Rationalismus betrifft ihr diametral entgegengesetztes Verständnis speziell in der Frage nach dem Stellenwert des Essens im menschlichen Leben. So wird gerade am Leitfaden einer Philosophie des Essens die ebenso ‹schlichte› wie ‹skandalöse› Idee der epikureischen Lustlehre greifbar: Entgegen der Meinung der wirkungsmächtigeren Moraltheorie von Platon und Aristoteles und ihrer bis in die Gegenwart hinein unhinterfragten Diätmoral behauptet Epikurs gastrosophisches Vernunftideal, ethisch gut zu leben heiße (und erfordere), lustvoll zu leben, und die sittlich gute Lust beinhalte (unter anderem) die Tugend, lustvoll zu essen, denn wer gut isst, Weisheit und Glück voll lebt.

Bis heute ist ‹Hedonismus› ein Synonym für sinnlichen Genuss, kulinarisches Wohlleben und die Lebenskunst einer guten Küche. Dass in der gegenwärtigen Literatur zu Epikur dessen gastrosophische Ethik dennoch keine nennenswerte Bedeutung beigemessen wird, muss auf die Dominanz des diätmoralischen Denkens (der platonisch-aristotelischen Tradition) zurückgeführt werden.(2)

Gerade die Diätmoralisten waren von Anfang an damit beschäftigt, die Epikureer mit Ausschweifung, Fresserei und Trunkenheit in Verbindung zu bringen und deren Lebenskunst als ein maßloses Lustleben darzustellen oder meistens zu entstellen. Keine Philosophie wurde derart desavouiert und schlecht gemacht wie der epikureische Hedonismus und die ungewöhnliche Lebenspraxis, die man mit Epikurs ‹Garten› verband: Der Philosoph Timokrates redet Epikurs Philosophie schlecht, indem er das Gerücht verbreitet, dieser würde sich zweimal am Tag erbrechen, um seiner Schlemmerei ununterbrochen frönen zu können. Entsprechend müsse er täglich eine Unsumme für Essen ausgeben (Diog. Laertius, Leben und Lehre der Philosophen, X, 3-7). Auf diese Verunglimpfungen des Epikureismus ist zurückzuführen, dass man heute mit dem ‹Hedonismus› zwar eine Lebenseinstellung verbindet, bei der es ums ‹sinnliche Wohlleben› geht, ohne aber Genaueres und von solchen herkömmlichen Polemiken Abweichendes über Epikurs Gastrosophie zu wissen. Daher soll meine gastrosophische Interpretation zeigen, wie mit Epikurs hedonistischer Ethik - wenigstens ansatzweise - eine Vernunft des guten Essens als Praxisform des guten Lebens denkbar ist. Damit will diese Interpretation nicht zuletzt jene „Perspektiven einer Ethik in der Postmoderne" (Geyer, Epikur: 139ff) einlösen, in denen man zu Recht die „Aktualität Epikurs" vermutet.

Unter einem Hedonisten versteht man gewöhnlich einen Genussmenschen, der nach jeder Form von Lust strebt, die sich ihm bietet und ihm widerfährt. Diese ‹vulgäre› Vorstellung vom Guten der Lust, über die bereits Sokrates mit Kallikles debattierte, folgt dem Glauben, dass das Gute in möglichst vielen und häufigen Vergnügungen und Annehmlichkeiten, eben in der Lustmaximierung einer ‹üppigen Lebensweise›, beruhe. Demnach ist alles gut, was irgendwie Lust bereitet, und alles Lust Verheißende gilt automatisch als etwas Gutes. In diesem vulgären Sinne wird der Hedonist mit einem ‹Lüstling› oder ‹Lebenskünstler› assoziiert. Um jedoch Epikurs Lustlehre richtig zu erfassen, kommt es zunächst darauf an, seinen philosophischen Hedonismus von dem erwähnten und verbreiteten vulgären Hedonismus zu unterscheiden. Denn dem geläufigen Glücksrezept hält Epikur eine philosophische Lebenskunst entgegen, die den Zusammenhang zwischen dem Guten und dem Lustvollen über die Ethik einer ‹richtigen Wahl› herstellt (Hadot, Philosophie als Lebensform: 40). Demnach ist nicht jede Lust gut, sondern nur die Wahl bestimmter Lüste, die inhaltlich näher als ethisch gute Lüste zu bestimmen sind. Entsprechend ist das ethisch Gute nur gut, insofern es in einem gewissen Sinne lustvoll ist. So kultiviert derjenige eine philosophisch-ethische Lebenskunst, welcher das lustvolle Gute wählt.

Diese Philosophie der guten Lust oder Wohllust entwickelt Epikur - soviel lässt sich trotz der wenigen Hinweise immerhin darstellen - anhand der hedoné der Esspraxis. Für eine Fundierung des Hedonismus aus dem Geiste der Gastrosophie wählt er einen, den philosophischen Problematisierungen des diätmoralischen Diskurses entgegengesetzten, Ausgangspunkt: nämlich den unfreiwilligen Mangel und die notgedrungene Mäßigkeit, die in dem (schon satten) Denken meines ‹freiwilligen Verzichts› nicht vorkommen (weder Platon noch Aristoteles problematisieren den körperlichen Hunger als Leiden und großes Übel). So heißt es bei Epikur: „Die Stimme des Fleisches spricht: nicht hungern, nicht dürsten, nicht frieren. Wem dies Begehren erfüllt wird und wer hoffen kann, es ständig erfüllt zu sehen, der könnte sich an Glückseligkeit selbst mit Zeus messen." (Spruchsammlung 21) Epikur begründet damit einen minimalen Begriff des gastrosophischen Glücks, der sich auf die mögliche Abwendung eines existenziellen Hungerleidens und damit auf die Quelle einer ständigen, tagtäglichen Unlust bezieht. Die Abwendung des dauerhaften Zustandes einer unterernährten Existenz bedeutet die Verhinderung eines fundamentalen Unguten. Die elementare, aber wenig reflektierte Wahrheit, die sich die epikureische Gastrosophie klarmacht, lautet also: Das größte menschliche Übel ist das Elend einer unerfüllten Ess-istenz. Insofern trifft zu: „Brot und Wasser bereiten höchste Lust, wenn jemand sie zu sich nimmt, der wirklich Hunger hat." (Diog. Laertius, Leben und Lehre der Philosophen X, 131) Dass Epikur hier Brot und Wasser als etwas Gutes an sich, als höchste Lust bezeichnet, versteht sich als eine Reaktion auf die reale Not einer unfreiwilligen Entbehrung. Statt den Genussverzicht zu einer Tugend zu erklären, wird die materielle Gewissheit, tagtäglich den eigenen ess-istenziellen Grundbedürfnissen genügen zu können und nicht Hunger leiden zu müssen, als minimales Indiz für eine allgemein menschliche Glückserfahrung angeführt. Weil die wirkliche Füllung eines leidig leeren Magens von den Menschen als lustvoll erfahren wird, kann sich eine philosophische Ethik auf diese gute Lust als normativen Grundbegriff beziehen.

Für Epikurs ethischen Hedonismus ist nun entscheidend, dass er in diesem minimalen Genügen und Wohlergehen - dem, was man heute im politischen Ernährungsdiskurs lieblos ‹Ernährungssicherheit› nennt - lediglich die alltagsweltliche, ökonomische Grundvoraussetzung einer gastrosophischen Freiheit sieht. Denn die gastrosophische Selbst-Bestimmung beschränkt sich auf den ‹negativen› Fall eines Freiseins von Unterernährung und Hungerelend. Das heißt, unter materiell dürftigen Lebensbedingungen bezieht sich das gastrosophisch Gute (seinem minimalen Begriff nach) auf das wohlige Sattsein, auf die dauerhafte, furchtlose Sicherheit, überhaupt genug Nahrung zur Verfügung zu haben, um das ständig drohende Übel des Darbens und leidvollen Unerfülltseins abwenden zu können. Kurz: Der Ausgangspunkt der epikureischen Lustphilosophie ist ein minimaler (‹negativer›) gastrosophischer Freiheitsbegriff.

Mit der Einsicht in diese konkreten Voraussetzungen der menschlichen Freiheit, ein solches gutes, lustvolles Leben zu genießen, liefert Epikur die entscheidenden Ansätze zu einem philosophischen Materialismus, die Karl Marx nicht entgangen sind. Dementsprechend lobt er Epikur als einen radikalen Aufklärer (vgl. Marx, Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie: 68). Wegen dieser „bei Marx begonnenen linken Epikurrezeption" spricht Klaus Held davon, man könne die marxsche Kapitalismuskritik „als eine Fortsetzung des epikureischen Denkens lesen, über das er nicht zufällig promoviert hat". (Held, Entpolitisierte Verwirklichung des Glücks: 126). Ebenso erwähnenswert ist, dass auch Herbert Marcuse auf den philosophischen Zusammenhang von Epikurs Hedonismus mit Marx' Kommunismus hinweist: „‘Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen.' Hier taucht die alte hedonistische Definition wieder auf, die das Glück in der allseitigen Befriedigung der Bedürfnisse sieht." (Marcuse, Kritik des Hedonismus: 130) Marcuse betont die systematische Bedeutung des epikureischen Hedonismus für eine marxistisch inspirierte Theorie einer besseren Welt. Denn „mit dem Prinzip des Hedonismus ist", so Marcuse, „die Forderung nach der Freiheit des Individuums <...> in den Bereich der materiellen Lebensverhältnisse vorangetrieben. Sofern in dem materialistischen Protest des Hedonismus ein sonst verfemtes Stück menschlicher Befreiung aufbewahrt ist, ist er mit dem Interesse der kritischen Theorie verbunden." (ebd, 151)

Freilich berührt die hier angesprochene Beziehung der epikureischen Philosophie zu den gesellschaftlichen Lebensbedingungen eine programmatische Schwäche, nämlich Epikurs Haltung zur Politik. An dieser Haltung ist deutlich zu machen, wieso seine Gastrosophie den materialistischen Ansatz nicht zu einer politischen Philosophie ausdehnt. Man hat angesichts der politisch düsteren Situation dieser Zeit Epikurs politische Zurückhaltung zwar mit einigem Recht als einen unfreiwilligen und daher legitimen Schritt verteidigt. Dazu muss man sich in Erinnerung rufen, dass im Jahre 306, als Epikur sich in seine Gartenkommune zurückzog, nach langer demokratischer Tradition der Alleinherrscher Demetrios Poliorketes alle politische Macht an sich gerissen hatte. Angesichts dieser politischen Krisensituation und des Verlustes der politischen Mitbestimmungsfreiheit entschied sich Epikur mit vielen gleichgesinnten Bürgern für „den Weg der ‹inneren Emigration›, des immer wieder so viel geschmähten ‹láthe biósas›." (Tielsch, Epikurs Theorie vom privaten und sozialen Glück: 69) Indessen rechtfertigen diese realen, aber historisch veränderlichen Lebensumstände nicht den konzeptuellen Schwachpunkt der epikureischen Philosophie, das politische Leben wenigstens theoretisch als eine konstitutive Praxisform des guten Lebens einer demokratischen Mitbestimmung gedacht zu haben. Statt sich auf die von Sokrates kultivierte und von Aristoteles ausgearbeitete Ethik einer politischen Freiheitspraxis zu beziehen (und so die eigene Theorie der guten Lebenspraxis durch eine weitere, die politische Lebenskunst zu erweitern), entstand eine hedonistische Weisheitslehre, die - trotz ihrer Ansätze zu einer gastrosophischen Kritik der politisch-ökonomischen Strukturen - in der vom Rest der Welt abgeschotteten Gartenkommune eine „entpolitisierte Verwirklichung des Glücks" realisiert (vgl. Held, Entpolitisierte Verwirklichung des Glücks).

Doch halten wir einen entscheidenden Punkt fest: Der hedonistische Zusammenhang, den Epikur zwischen seinem Lustdenken und den ethischen Fragen des Essens herstellt, hat nicht den Sinn einer (Diät-)Moral der kulinarischen Lustverachtung. Wenn es bei ihm dennoch heißt, „Ich bin von übergroßer Freude in meinem Körperchen erfüllt, wenn ich von Wasser und Brot lebe" (Fragment 10), dann drückt sich darin lediglich die weise Strategie einer Ethik des guten Essens unter mageren Rahmenbedingungen aus. Für den Fall einer unfreiwilligen gastrosophischen Selbstgenügsamkeit, bei dem kulinarisch-ästhetische Fragen des Geschmacks sich erst gar nicht stellen, bleibt eben nur das bescheidene Glück, welches sich schon darin erfüllt, dass der leidige Hunger vertrieben wird: „Einfache Suppen bereiten den gleichen Genuß wie ein üppiges Essen, wenn nur der Schmerz des Mangels behoben wird." (Brief an Menoikeus) Epikurs Freude an einfachen Suppen oder an ‹Wasser und Brot› liegt aber eine philosophische Wertschätzung des Essgenusses zugrunde, die sich ganz wesentlich von Senecas Forderung unterscheidet. Der wahre Stoiker, wie ihn sich Seneca wünscht, stelle seine „Geistesgröße" und „Weisheit" dadurch unter Beweis, dass er sich kraft seiner asketischen Tugend der kulinarischen Selbstlosigkeit immer und ausschließlich mit kärglichster und einfachster Kost zufrieden gebe - am besten bloß mit einem „harten Stück Schwarzbrot". (Seneca, Über Ethik, 18. Brief 7)

Dagegen stellt Epikur seine Position klar: „Ich habe die Selbstgenügsamkeit nicht gepriesen, um mich durchaus nur mit schlichten und billigen Speisen zu ernähren, sondern um imstande zu sein, mich damit zufrieden zu geben." (Fragmente, Nr. 32) Im prinzipiellen Gegensatz zur stoischen Asketik lehrt die epikureische Gastrosophie, dass die kulinarische Lust an Wohlschmeckendem eine ethische Wohllust ist. So äußert Epikur in einem Brief an seinen Freund Menoikeus die feinschmeckerische Bitte: „Schicke mir ein Töpfchen mit Käse, damit ich, wenn ich Lust habe, prächtig speisen kann." (Diog. Laertius, Leben und Lehre der Philosophen, X, 11) Das Glück eines kulinarischen Wohllebens wird hier nicht mit Bildern von überfüllten Tafeln und lukullischen Speisebergen ausgemalt, sondern in dem ausgewählten Geschmack delikater Gaumenfreuden gesucht. Bei freier Wahl herrscht in Epikurs Küche nicht die herkömmliche Logik, die das Gute entweder in der Völlerei oder im Verzicht sucht. Stattdessen wird in ihr eine gastrosophische Freiheit praktiziert, die sich auf das Geschmackvolle als das kulinarisch höchste Gut versteht. Die fröhliche Wissenschaft dieser ‹köstlichen› Logik hat Nietzsche erkannt. Unter der Überschrift ‹Der Philosoph der Üppigkeit› resümiert er den epikureischen Hedonismus mit den Worten: „Ein Gärtchen, Feigen, kleine Käse und dazu drei oder vier gute Freunde, - das war die Üppigkeit Epikur's." (Menschliches, Allzumenschliches, 2: 638)

Mit ziemlicher Sicherheit war Epikur nicht der bulimische Vielfraß und ‹Lüstling›, als den seine Kritiker ihn verpönten, indem sie ihm eine maßlose Genusssucht unterstellten. Am ehesten treffen solche Vorbehalte auf Aristipp und die so genannten Kyrenaiker zu. Für das kyrenaische Lustleben gilt in der Tat: Schmausen, Tanzen, Zechen seien allemal Kulte eines gottgefälligen Feierns. Der moralischen Verurteilung solch eines exzessiven Lebenswandels hält Aristipp entgegen: „Wenn es falsch ist, so zu leben, warum tut man es dann zur Feier der Götter?" (Diog. Laertius, Aristipp; vgl. Döring, Der Sokratesschüler Aristipp und die Kyrenaiker)

Aber das ist nicht die Position, die Epikur vertritt. Angesichts möglicher Verwechselungen seines ethischen Hedonismus mit solch einem wahllosen Hedonismus ebenso wie angesichts der massiven Anfeindungen seiner Philosophie sieht er sich zur Verteidigung gezwungen. Er stellt klar (wobei seine Apologie, wie sich gleich zeigen wird, einen unausgesprochenen Hintersinn verfolgt): „Wenn ich nun erkläre, daß die hedoné das Ziel des Lebens ist, dann meine ich damit nicht die Lüste der Schlemmer noch die Lüste, die im Genießen selbst liegen, wie gewisse Leute glauben, die meine Lehre nicht verstehen, sie ablehnen oder böswillig auslegen. <...> Denn nicht häufige Trinkgelage und festliches Schmausen, <...> noch der Genuß von leckeren Fischen und was sonst eine üppige Tafel bietet, schafft ein lustvolles Leben." (Brief an Menoikeus: 58) Epikur geht sogar noch einen Schritt weiter in der scheinbaren Selbstverleugnung seines gastrosophischen Hedonismus, wenn es bei ihm heißt: „Ich pfeife auf die Freuden eines üppigen Mahles ..." - Freilich verbirgt sich hinter diesen verwirrenden Dementis ein gastrosophischer Sinn. Denn er fügt seinen Rechtfertigungen die folgende Erklärung hinzu: „Ich pfeife auf die Freuden eines üppigen Mahles nicht dieser Freuden wegen, sondern wegen der Unannehmlichkeiten, die ihnen auf dem Fuße folgen." (Fragmente, Nr. 10) Mit anderen Worten: Selbstverständlich verzichtet der Gastrosoph auf ungesundes Essen und eine schlechte Ernährungsweise, die zwangsläufig ‹unlustige› Krankheiten und physisches Unwohlsein zur Folge haben. Aber nicht diese freiwillige Verzichtmoral und kulinarische Mäßigung ist Epikurs letztes ernährungsphilosophisches Wort. Für ihn bleibt es nicht bei dieser diätetischen Bestimmung des gastrosophisch Guten. Denn der wahre Sinn seiner Argumentation geht über solche Anleihen bei der hippokratischen Diätetik hinaus: Sollte nämlich das Mahl gesundheitlich unbedenklich sein, genießt er es mit großem Vergnügen und kulinarischem Selbstgenuss - das ist Epikurs gastrosophischer Gedankengang. Vorausgesetzt, dass eine freie Wahl gesunder Nahrungsmittel gegeben ist, schätzt der Hedonist - im programmatischen Gegensatz zu den Diätmoralisten und allen sonstigen Antihedonisten und Diätetikern - die menschenmöglichen Gaumenfreuden als erfüllte Glückserfahrungen.

Dennoch liegt die gastrosophische Vernunftpraxis, die Epikur lehrt, nicht in dem Ideal einer üppigen Lebensweise im Sinne der Völlerei und Schlemmsucht. Das Epikur-Verständnis bzw. Unverständnis, welches seine Gegner über Jahrhunderte hinweg aggressiv propagierten, will die angeführten Richtigstellungen (und Zugeständnisse) nicht wahrhaben: So vermitteln anti-epikureische Schmähreden einen indirekten Eindruck von der enormen Irritation, die der an sich schlichte Gedanke, dem Essen als Alltagspraxis eine ethisch positive Bedeutung zu verleihen und die kulinarische Lust am Wohlgeschmack als ein fundamentales Gut einer vernünftigen Lebensfreude wertzuschätzen, in einem diätmoralisch geprägten Umfeld auslöst.

Inwieweit bei Epikur allerdings die kulinarische Praxis im engeren Sinne, also das Essenmachen und die Kochkunst, den Wert einer philosophischen Lebenskunst gewinnt, ist nicht ohne Weiteres zu bestimmen, da gesicherte Informationen zu seiner (möglichen) Küchenarbeit nicht überliefert sind. Epikurs umfassende Beschäftigung mit naturphilosophischen und erkenntnistheoretischen Fragen, die in einer atomistischen Wahrnehmungslehre münden, bieten zwar Ansätze zu einem gastrosophischen Naturdenken und einer lebensweltlichen Beschäftigung mit Nahrungsmitteln (vgl. Lukrez, Von der Natur). Aber sie liefern doch keine expliziten Hinweise auf Reflexionen zur kulinarischen Praxis. Allenfalls finden sich externe (anekdotische) Hinweise; beispielsweise soll von einem seiner Schüler der Ausspruch stammen: „Das sei der einzige Weise, dem er je begegnet sei, der das Gute erkannte und es zu kochen und aufzutragen verstand." (Rigotti, Philosophie in der Küche: 75) Ein weiteres Indiz bietet Damoxenos' Schrift Syntrophoi. In diesem als Komödie gedachten Schauspiel, welches die vorsätzlichen Verzerrungen des epikureischen Hedonismus schürt - Syntrophoi ist eine Bezeichnung für üppige und kostspielige Gelage -, gibt sich jemand als ein ‹Schüler des Epikur› aus. Freilich ist er kein Schüler der wissenschaftlichen Werke, sondern, wie sich herausstellt, ein Koch-Schüler. „Das Ganze gerät zu einer einzigen Parodie: Epikur kann Kochlehrlinge ausbilden, weil die vielen Gelage, die er gehalten hat, es ihm erlaubt haben, umfangreiche Erfahrungen auf dem Gebiet der Kochkunst zu sammeln, die dann noch ergänzt wurden durch die eigene natürliche Neigung. Epikur fiel es daher viel leichter als anderen, ein hervorragender Koch zu werden, wobei seine mit der Kochkunst so eng verwandte Philosophie den Geschmack seiner Leser und Zuhörer optimal befriedigen kann." (ebd, 76)

Wie viel Wahrheit in diesem ‹komischen› Gedankenspiel steckt, lässt sich heute kaum ermessen. Jedenfalls ist mit dem Epikur-Kenner Nietzsche zu konstatieren, dass sich unter den „dreihundert Büchern" des „alten Schulmeisters von Samos" kein Kochbuch befindet. Ein epikureisches Kochbuch wird (darauf ist gleich zurückzukommen) erst der Renaissance-Philosoph Platina mit seinem einflussreichen Werk ‹De honesta voluptate› vorlegen, von dem der entscheidende Anstoß für den neuzeitlichen Epikureismus ausgeht, dessen gastrosophische Ausläufer schließlich bei Rousseau, Feuerbach, Marx und Nietzsche feststellbar sind. Jedenfalls gehört die Vorstellung, Epikur habe selbst gekocht und diese Lebenskunst beispielhaft vorgelebt, zum hedonistischen Diskurs: Unter dem bezeichnenden Titel ‹Epikur am Küchentisch› wird heute ein ‹Philosophisches Kochbuch mit preiswerten Rezepten› angeboten (vgl. Kenziora/ Wysocki) und die englischsprachige Internet-Homepage ‹www.epicurious.com› präsentiert die, nach eigenen Angaben, weltgrößte Rezeptesammlung.

Der Umstand, dass sich Epikur anders als seine namhaften Kontrahenten, die wohlhabenden Bürger Platon und Aristoteles, tatsächlich mit wenigen, schlichten Speisen zufrieden geben muss, hängt aller Wahrscheinlichkeit nach mit der realen, bescheidenen Lebenssituation des ‹epikureischen Gartens› zusammen. Denn nach der Auskunft des Diogenes Laertius leben die Bewohner des epikureischen Gartens unfreiwillig „auf eine äußerst einfache und schlichte Weise". Diogenes berichtet beispielsweise von entsprechenden Trinkgewohnheiten, deren Genügsamkeit die epikureische Philosophie, wie wir sahen, zu einer notgedrungenen Tugend erklärt: „Sie waren schon mit etwas Wein der billigen Sorte zufrieden, im allgemeinen aber tranken sie Wasser." (Diog. Laertius, Leben und Lehre der Philosophen, X, 11) Was genau hat es mit dem berühmt-berüchtigten Garten des Epikur auf sich? Bei dem legendären ‹Garten› des Epikur handelt es sich um ein Anwesen oder einen Hof (mit einem ausgedehnten Garten), das er mit seinen Freunden und ‹Anhängern› seiner Philosophie bewohnt. Damit entsteht eine der ersten beispielhaften ‹Landkommunen› des Abendlandes, deren Mahlgemeinschaft die sokratische Gastmahlpraxis fortsetzt und darüber hinaus der sozialen Utopie eines freundschaftlichen und gerechten Zusammenlebens eine konkrete Form verleiht. „Viele", berichtet Diogenes Laertius, „strömten von überall herbei und lebten bei ihm im Garten." (ebd) Die Tatsache, dass der epikureische Hedonismus eines guten Lebens auch die Tugend und Lust des Freundseins beziehungsweise eines guten, freundschaftlichen Soziallebens beinhaltet, ist hier nur anzumerken.(3) Im Kontext einer Philosophie des Essens genügt die Feststellung, dass sich in dem ‹epikureischen Garten› jenes konviviale Ideal einer freien Mahlgemeinschaft verwirklicht, auf welches im Verlaufe der unterschwelligen Geschichte des gastrosophischen Denkens des Abendlandes von den unterschiedlichsten Philosophen immer wieder Bezug genommen wird.(4)

Die Mahlgemeinschaft der Epikureer ist (nicht nur) zu der damaligen Zeit eine geradezu revolutionäre Einrichtung, welche die gesellschaftlichen Machtverhältnisse und Lebensgewohnheiten radikal in Frage stellt. Während ringsherum Sklavenwirtschaft, Frauenunterdrückung und Männerherrschaft an der Tagesordnung sind und diese auch von den meisten Philosophen durch entsprechende politisch-weltanschauliche Theorien gerechtfertigt werden, verfolgen Epikur und seine Freunde mit ihrer ungewöhnlichen Lebensgemeinschaft ein demokratisches Selbstverständnis der gleichen Freiheit für alle und der sozialen Gerechtigkeit untereinander (vgl. Hauptlehrsätze 31-40). Gesellschaftliche Minderheiten und ausländische Fremde haben uneingeschränkten Zugang zu dieser ‹klassenlosen Gesellschaft›. Für den Lebensunterhalt wird gemeinsam gesorgt, wobei die wirtschaftliche Grundlage ein System von regelmäßig zu entrichtenden Spenden und Beiträgen bildet. Die wohlhabenden Mitglieder dieser Lebensgemeinschaft steuern größere Beiträge bei, die dann den mittellosen Mitgliedern zugute kommen, wodurch die Epikureer die konkrete Utopie von sozial gerechten Gesellschaftsverhältnissen zu verwirklichen scheinen.

In ganz Griechenland, in Kleinasien, Ägypten und (etwa um 50 v.Chr.) auch in Italien findet die gastrosophische Lebensform des epikureischen Kommunismus/Hedonismus Anhänger. Von Cicero erfährt man, dass die lateinische Übersetzung von Epikurs Schriften ‹Bestseller› waren: „Als aber dann im Anschluß an Amafinius viele Anhänger seiner Schule zahlreiche Schriften herausgegeben hatten, da zogen diese ganz Italien in ihren Bann." (Cicero, Tuskulanische Gespräche, IV, 3, 6-7) Der römische Dichter Horaz gesteht selbstironisch, ein Epicuri de grege porcus, ein Schwein aus der Herde Epikurs, zu sein. Noch der Epikureer Nietzsche fragt im Zusammenhang seiner Idee, eine philosophische Schule und Lebensgemeinschaft gründen zu wollen, seinen Freund sehnsüchtig: „Wo wollen wir den Garten Epikurs erneuern?" Dieser ‹Garten› war (wie Griechenlandexperte Nietzsche sicherlich wusste) kein nutzloser Blumengarten und kein aristokratischer Lustgarten, sondern ein echter Gemüsegarten, den die Epikureer zur Subsistenzwirtschaft nutzten: neben Weinreben wurden Kohl, Rüben, Gurken und dergleichen angebaut (Müller, Die epikureische Ethik: 115) und mitunter auch Obst (Rigotti, Philosophie in der Küche: 74). Auf diese ökonomischen Grundlagen ihrer Lebensumstände muss folglich die materielle Ursache für die unfreiwillige Frugalität der epikureischen Gastrosophie zurückgeführt werden. Von dem englischen Philosophen und Aufklärer Shaftesbury stammt die Vermutung, dass in Epikurs Garten nur „schlechte Nahrung" erwirtschaftet worden sei (Shaftesbury, Der gesellige Enthusiast: 85). Demnach scheinen die realen Gründe für seinen genügsamen Speiseplan die unzureichenden Erträge der landwirtschaftlichen Selbstversorgung und mithin der Sachverhalt gewesen zu sein, dass er und seine Freunde nicht die besten ‹Bauern› waren.

Keine Philosophie wurde derart verunglimpft und schlechtgemacht wie der epikureische Hedonismus. Interessanterweise erregt sich die heftige Ablehnung nicht an der möglichen Problematik eines entpolitisierten Glücksbegriffs, sondern an der offenbar als höchst bedrohlich empfundenen Wahrheit dieser Lust- und Genuss-Philosophie. In unmittelbarer Gegnerschaft zu der gesellschaftlich dominanten (platonisch-aristotelischen) Moraltheorie, die als oberstes Lebensideal die tugendhafte und dabei lustfeindliche Existenz lehrt, zogen Epikurs unkonventionelles Lustdenken und seine ungewöhnliche Lebensweise jedenfalls von Anfang an viele Kritiker, Denunzianten und selbst ernannte Verteidiger der herrschenden Diätmoral an. Neben Vorwürfen und Diffamierungen, die sich auf die angebliche Libertinage der Epikureer und deren freizügiges Verhältnis zu den sexuellen Lüsten beziehen(5), wurden ihnen vor allem kulinarische Genusssucht, häufige Trinkgelage und üppiges Tafeln unterstellt. Hier sei an die anfangs erwähnte Diffamierung durch Timokrates erinnert, der in seiner Schrift ‹Amüsantes› kolportiert, Epikur würde sich zweimal am Tag erbrechen, um seiner Schlemmerei immerfort frönen zu können. Entsprechend müsse er täglich eine Unsumme für Essen ausgeben (Diog. Laertius, Leben und Lehre der Philosophen, X, 3-7). Theodoros beschuldigt Epikur in seinem Buch, mit dem bezeichnenden Titel ‹Gegen Epikur›, er habe sich, ohne jeden Anstand zu wahren, mit einer Frau namens Themista betrunken. Auf ähnliche Weise setzt sich der Stoiker Porphyrios mit den Epikureern auseinander, um ihnen das „Elend" der Sinnenfreuden vorzuhalten und das wahre Glück eines asketischen Geisteslebens gegenüberzustellen: „Die Meinung, daß man von seinen Sinnen heftig bewegt dennoch dem Übersinnlichen, der Vernunft energisch dienen könne, hat auch schon vielen Nichtgriechen den Hals gebrochen, welche darob sorglos sich der Wollust jeder Art in die Arme warfen und meinten, man könne sich dem Allem gedankenlos überlassen und mit dem Geist bei anderen Dingen sein!" (Porphyrios, Von der Enthaltsamkeit beseelter Wesen: 151f)

Zu erinnern ist ebenso an die doppelzüngige Hymne auf Epikurs Gastrosophie, die sich noch Jahrhunderte später in den populären Carmina Burana des bayrischen Benediktinerklosters Benediktbeuern findet. Dort heißt es: „Laut schreit Epikur:/ Der satte Bauch ist aller Sorgen frei./ Der Bauch wird mein Gott sein./ Nach einem solchen Gott verlangt mein Heißhunger./ Sein Tempel ist die Küche,/ Nach Göttlichem duftet es in ihr. Sieh', er ist ein bequemer Gott./ Zu keiner Zeit ist er nüchtern./ Vor dem ersten Bissen am Morgen/ Gießt er trunken Wein ein./ Seine Tafel und sein Becher/ Machen die wahre Glückseligkeit aus." (Heckmann, Die Freud des Essens: 60) Die bewusste Diffamierung des epikureischen Hedonismus zieht sich über die Jahrhunderte nahezu unverändert durch die europäische Geistesgeschichte (vgl. Klinck, Studien zur Epikurrezeption). Noch an der Schwelle zur italienischen Renaissance finden sich prominente Denunzianten. So lässt der christliche Moralist und mittelalterliche Dichter Dante Alighieri in der Göttlichen Komödie (aus dem 14. Jahrhundert) den Gastrosophen Epikur in der Hölle braten. Dantes nicht weniger bekannter Dichterkollege und Zeitgenosse Francesco Petrarca geißelt die Anhänger der epikureischen Ethik ebenso eifrig: „Schämst du dich nicht, daß du deine Freunde, Wohlleben, ja ewiges Leben auf die Wollust dieses vergänglichen Leibes und Lebens setzt wie die schändlichen, verworfenen und gottlosen Epikuräer ihre Lust wie das Vieh auch aufs Fressen, Saufen und die Wollüstigkeit setzen." Erwartungsgemäß belehrt Petrarca seinen Leser: „Lieber schäme dich doch wie ein Vieh zu leben, schäme doch dich, ein Brotkorb und ein Weinschlauch und nichts anderes zu sein. Schäme doch dich, daß du weder hungrig noch durstig werden kannst." (Petrarca, Heilmittel gegen Glück und Unglück: 102)

Schließlich wird dem ‹unverschämten› Hedonismus im gleichen Atemzug eine platonisch-christliche Diätmoral entgegengehalten: „Nun soll das gute Leben sein, daß dir weder das Essen noch das Trinken schmecket; wenn du weißt, daß Hunger ein guter Koch sei, würdest du dich der Mäßigkeit befleißigen. Denn, wenn einer stets ein voller Zapfen ist, kann ihm auch das, was köstlich ist, nimmer schmecken." Die mäßige Küche, die der religiöse Dichter und Moralphilosoph seinen Mitmenschen hier anrät und damit die epikureische Gastrosophie bis zur Unkenntlichkeit verstellt, wird mit diätetischen Argumenten begründet. „Wo du diese Warnung als leicht erachtest und immer fortschwelgst, wirst du wahrlich den hieraus erwachsenden Krankheiten und zuletzt auch dem Tod nicht entrinnen können. <...> Es sind mehr durchs Fressen und Saufen gestorben als durch das Schwert. Wer mäßig lebt, des Leben soll lang sein." (ebd) In dieser Polarität zwischen der diätmoralischen Vernunft einerseits und der Unvernunft eines gastrosophischen Hedonismus oder Epikureismus andererseits tritt bei Petrarca mustergültig die geläufige Diffamierung der epikureischen Philosophie auf: Indem sie dieselbe mit dem wahllosen Guten eines maximalen Lustvergnügens und dem Glücksversprechen einer unersättlichen Völlerei gleichsetzt, wird bewusst von der gastrosophischen Wahrheit seiner Ethik abgelenkt.

Wir Epikureer?
Doch halten wir fest: Epikur konkretisiert das von seinem intellektuellen und gesellschaftlichen Umfeld heftig diffamierte Lustdenken am Beispiel der kulinarischen Lebenspraxis. Sein Hedonismus stellt damit einen systematischen Zusammenhang zwischen Wohlleben, Weisheit und der Lust an gutem Essen her, der bereits von Sokrates reflektiert wird. Für den Sokratiker Epikur ist das Gute weder das Wenige und der Lustverzicht noch das Viele und die Völlerei. Sicherlich kann das kulinarisch Gute manchmal im Üppigen und Kostspieligen stecken. Aber an sich ist es nicht gleichbedeutend mit überfüllten Tafeln und kostspieligen Schlemmereien. Worauf es Epikurs Theorie der guten Lust ankommt, ist das Wissen, die richtigen Vergnügen zu wählen. Demnach versteht sich am gastrosophischen Wohlleben, wer den alltäglichen und notwendigen Lebensgenuss einer geschmackvollen Küche als ein Stück Glück begreift. Zum einen bringt es die existenzielle Gewissheit der Lust einer kulinarisch und gesundheitlich wohlvollen Sättigung mit sich, welche statt der Unlust des Darbens und Hungerns das ständig wiederkehrende Glück der Fülle bedeutet (vgl. Baudy, Metaphorik der Erfüllung). Zum anderen verwirklichen sich die göttliche Freuden des Magens in der Heiligkeit einer allenthalben einfachen, aber geschmacklich guten Küche, die ihr lebensweltliches Telos in der Mahlgemeinschaft von Freunden hat und sich darüber hinaus auf Fragen der naturnahen Landwirtschaft erweitert. Epikurs so häufig missverstandene und schlechtgeredete Lebenskunst lehrt also die Gewöhnung an eine ebenso selbstgenügsam lustbewusste wie kulinarisch kultivierte und in diesem gastrosophischen Sinne durchaus auch üppige Lebensweise.

Der eigentliche Grund für den massiven Unwillen, den Epikur im Mainstream hervorruft, liegt in der grundsätzlichen philosophischen Aufwertung solcher lustvoller und alltäglicher Dinge wie guten Essens und des Glücks eines kulinarischen Wohllebens, die in dem diätmoralisch geprägten Wertesystem der abendländischen Kultur zu ‹unwichtigen› und ‹unphilosophischen› Angelegenheiten einer vernunftwidrigen und animalischen Naturnotwendigkeit erklärt werden. Diese Umwertung der ernährungsphilosophischen Werte bringt Epikurs gastrosophischer Hedonismus ins Spiel der Wahrheit, und diese grundbegriffliche Subversion stellt die weltanschaulichen Prämissen der traditionellen Philosophie radikal in Frage. Statt jedoch den ordinären Hedonismus einer geschmacklosen Völlerei durch das andere Extrem einer antigastrosophischen Asketik und den essgestörten Idealismus einer schnellen Küche zu ersetzen, lautet das Wesentliche des vernünftigen Hedonismus, wie ihn sich „der tugendhafte Epikur" (Kant) selbst zumindest wünscht und er ihn durch seine Philosophie anderen Menschen nahebringt, dass man „bei der Wahl der Speise nicht für die größte Masse, sondern für den Wohlgeschmack entscheidet". (Brief an Menoikeus) Träfe es hingegen zu, dass das letzte Wort und höchste Gut der epikureischen Lebenskunst „eine defensive Ethik klug reduzierter Lebensansprüche" wäre, wie beispielsweise Herbert Schnädelbach (Der auferstandene Epikur: 289) eine verbreitete Auffassung vertritt, dann ließe sich der erstaunliche Sachverhalt, dass sich die meisten Menschen heute mit reduzierten kulinarischen Lebensansprüchen zufrieden geben, in der Tat als Beleg für seine eigenwillige Behauptung verwenden, „der Zeitgeist sei Epikureer" (ebd.). Indessen verfehlt diese Sicht der Dinge den wahren Epikureismus einer Ethik des kulinarischen Wohllebens als eines Gutes an sich.

Gemessen aber an der unrealisierten Möglichkeit eines solchen Glücks ist unser Zeitgeist kein epikureischer Hedonist, sondern im Gegenteil ein echter Antihedonist, dem der tägliche Genuss guten Essens kaum als Anfang und Wurzel alles Guten gilt und dem alles andere wichtiger zu sein scheint, als diese gastrosophische Weisheit zu leben. In einer Genealogie des gastrosophischen Denkens ist Epikur schlichtweg auch heute noch ein diskursives Ereignis: Indem er die Gaumenfreuden zu einer moralisch legitimen und gebotenen Lustform erhebt, verbindet sich mit seinem Namen das Ideal eines guten Lebens, auf welches sich alle diejenigen berufen können, denen „ein Töpfchen mit gutem Käse" und verwandte Dinge ein wahres Glück und die Freude einer genussvollen Vernunft bedeuten.


Literatur

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Baudy, Gerhard J., Metaphorik der Erfüllung. Nahrung als Hintergrundsmodell in der griechischen Ethik bis Epikur, In: Archiv für Begriffsgeschichte, Band XXV, 1981: 7-68

Cicero, Marcus Tullius, Gespräche in Tusculum, München 1991

Döring, Klaus: Der Sokratesschüler Aristipp und die Kyrenaiker, Wiesbaden, 1988

Epiktet, Handbüchlein der Moral, Stuttgart 1992

Epikur, Philosophie der Freude, Briefe. Hauptlehrsätze. Spruchsammlung. Fragmente, München 1988

Geyer, Carl-Friedrich, Epikur zur Einführung, Hamburg 2000

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Hadot, Pierre, Philosophie als Lebensform. Geistige Übungen in der Antike, Berlin 1991

Heckmann, Herbert (Hg.), Die Freud des Essens. Ein kulturgeschichtliches Lesebuch vom Genuß der Speisen aber auch vom Leid des Hungers, München 1978

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Kenziora, Rüdiger und Eva-Margarete Wysocki, Epikur am Küchentisch. Philosophisches Kochbuch mit preiswerten Rezepten Berlin 1997

Klinck, Dieter, Studien zur Epikurrezeption. Aufnahme und Verbreitung des Epikureismus zur Zeit Ciceros und im französischen 17. Jahrhundert, Kiel 1967

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Lukrez, Von der Natur, München 1991

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Marx, Karl, Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie, In: Ders., Frühe Schriften I, Darmstadt 1962

Müller, Reimar, Die epikureische Ethik, Berlin 1991

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Paganini Gianni, und Edoardo Tortarolo (Hrsg): Der Garten und die Moderne. Epikureische Moral und Politik vom Humanismus bis zur Aufklärung. Stuttgart-Bad Cannstatt 2004

Petrarca, Francesco, Heilmittel gegen Glück und Unglück, hrsg. Eckhard Keßler, München 1988

Philippson, Robert, Studien zu Epikur und den Epikureern, Hildesheim Zürich New York 1983

Porphyrios, Von der Enthaltsamkeit beseelter Wesen, In:

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Schnädelbach, Herbert Der auferstandene Epikur, In: Ders., Vernunft und Geschichte, Frankfurt/M 1987
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Tielsch, Elfriede W., Epikurs Theorie vom privaten und sozialen Glück des Menschen, In: Günter Bien (Hrsg.), Die Frage nach dem Glück, Stuttgart Bad-Cannstadt, 1977

 

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Quellen, Anmerkungen

  1. Dieser Text ist in ungekürzter Version separat erschienen als: Genealogie des gastrosophischen Hedonismus, in: Daniele Dell'Agli, Essen als ob nicht. Gastrosophische Modelle, Suhrkamp: Frankfurt am Main 2009, 17-66.  
  2. Vgl. Geyer, Epikur; Bartling, Epikur - Theorie der Lebenskunst; Müller, Die epikureische Ethik; Philippson, Studien zu Epikur und den Epikureern.  
  3. „Bei allen Gütern, die die Weisheit zur Glückseligkeit des ganzen Lebens beitragen kann, ist bei weitem das Wertvollste die Erwerbung der Freundschaft." (Hauptlehrsätze XXVII) Indem Epikur das Freundsein als Praxisform eines guten Lebens begreift, wird nachvollziehbar, warum sein Hedonismus nicht ‹nur› dem Gott des wohlig erfüllten Bauches huldigt. Vielmehr erweist sich Epikurs Gastrosophie als ein Aspekt seiner Ethik und als eine Ausgestaltung seines Grundgedankens eines glücklichen Lebens. Eine andere und damit verbundene Praxisform ist die Freundschaftspraxis und ein Leben in guten Freundschaftsverhältnissen; vgl. Lemke, Freundschaft.  
  4. Die epikureische Gartengemeinde und Mahlgemeinschaft entsteht mehr als drei Jahrhunderte vor Christus und dessen folgenreicher Abendmahlpraxis. Sie bildet daher den gastrosophischen Hintergrund auch für die frühchristlichen Mahlgemeinschaften und für die Gründung einer ‹eucharistischen Kirche› durch Paulus, die paradoxerweise den epikureischen „Gott des Bauches" bekämpft.  
  5. Diogenes Laertius berichtet von entsprechenden Invektiven: Der Stoiker Poseidonios erzähle, Epikur habe seinen jüngeren Bruder zur Prostitution verleitet. Außerdem ging das Gerücht um, er lebe mit verschiedenen Hetären zusammen. Epiktet nennt ihn einen Prediger des Perversen und beschimpft ihn tüchtig (Epiktet, Diatriben, 1,20,17).