Selbst Wittgenstein hat den Geschmack seines radikalen Tractatus mit der Zeit als zu eintönig beiseite geschoben. Er hatte wohl Heimweh nach metaphysischer Kost. So ist es vielleicht kein Zufall, dass gerade in angloamerikanischen Ländern die analytische Philosophie entsprungen ist, sie aber auf dem alten Kontinent meist als zu fade empfunden wurde. Vielleicht liegt es ja daran, dass die Kontinentalphilosophen/-innen diese Philosophie mit der dortigen Küche verbanden, die ja zugegebenermaßen nicht gerade für Feinschmecker/-innen ist? Was bleibt, ist - wie Popper richtig formulierte - reine Vermutung. Das bedeutet wohl, was uns im Moment gerade schmeckt, muss noch lange nicht in Zukunft so bleiben. Einen absoluten, vollendeten Geschmack, den gibt es nicht. So ist es auch zu erklären, dass Gesamtsysteme des Geschmacks, wie sie uns Hegel und Marx servierten, heute keinen - oder fast keinen - Anklang mehr finden. Die Gesellschaft hat sich weiterentwickelt, das Leben sich individualisiert und relativiert. Was jedoch bleibt, ist das Bedürfnis des Menschen nach Momenten im Leben, in denen man aufgeht im Augenblick, den zu genießen uns in unserer Hightech-Welt immer schwerer fällt. Einen Weg dorthin bietet Epikur. Wir müssen ihn nur „probieren".
Wollte man sich die Geschichte der Philosophie als einen orientalischen Bazar vorstellen, in dem die verschiedensten Lehren der großen Denker in Form von Häppchen angeboten werden, so wäre Epikurs (341-270 v. Chr.) Lehre sicherlich ein Verkaufsschlager. Süß, mit einem zugegeben komischen Nachgeschmack, wäre sie immer noch weit vor der bitteren, ja gar hart-kornigen Kost der Stoiker, die zu seiner Zeit, die Rede ist vom 4. Jh. v.Chr., den Mainstream des Geschmacks beherrschten. Selbst die Platoniker verblassen angesichts der Tatsache, dass ihre asketische Kost den Feinschmeckern zwar zusagt, weil sie glauben, die Idee des wahren Geschmacks reiche aus, um zu verstehen, wann etwas wirklich „gut" schmecke, in Wahrheit aber schmecken sie fast „nichts" und wissen noch weniger. Noch füllt der asketische Geschmack den Platonikern die Bäuche - ihnen reicht die bloße Idee des Sattseins. Den Aristotelikern ergeht es genau umgekehrt. Ihre Kost sättigt zwar, ist aber im Geschmack zu plump, daher fühlt man die Schwere der Kost, noch bevor man ein aristotelisches Kochbuch auch nur geöffnet hat. Dies ist auch der Grund, weshalb aristotelische Kochbücher im Mittelalter Hochkonjunktur genossen: Man hatte viel Zeit und großen Hunger.
Der beste Beweis dafür ist wohl Thomas von Aquin, der einer der „mächtigsten" Restaurantkritiker jener Epoche war. Er war so dick, dass an seinem Pult - so wird überliefert - ein runder Einschnitt angebracht werden musste, damit er überhaupt daran sitzen und schmecken konnte.(1)
Alles in allem aber führt Epikur die ewige Liste der Geschmäcke weit an. Ob dies nun gerechtfertigt ist, bleibt Geschmackssache. Eins ist jedoch sicher: Keine andere antike Philosophie kommt mit weniger „Geschmacksverstärkern" aus als die epikureische. So finden sich in Epikurs Koch-Büchern keine „Meisterköche", die man anzubeten hat, um einmal im Leben eine vollendete Kost zu genießen. Auch muss man nicht den Nachtisch missen, wenn man beim Essen mal nicht artig war. Dieser fade Nachgeschmack, den man in anderen antiken Kochbüchern findet, ist bei Epikur kaum vorhanden. Zwar glaubt Epikur an einen „Meisterkoch", jedoch lässt er sich von ihm nicht in die Suppe spucken. Daher lagert er ihn in eine Zwischenwelt, aus der heraus jener weder eingreifen braucht noch will. Denn dieser lebt dort in dem paradiesischen Garten, in dem alles so schmeckt, wie es schmecken sollte. So kann sich Epikur selbst als den realen Meisterkoch betrachten, und niemand kann ihm seine Position streitig machen. Deswegen ist er absolut überzeugt davon, dass die Menschen ein geschmacksintensiveres Leben hätten, wenn sie erst nach seiner Philosophie lebten. All diejenigen, die seiner Lebensphilosophie - also der Lehre, die das Streben nach Lust zum obersten ethischen Prinzip macht -, nicht folgten, zeigte er die Zunge. So kam es, dass die Rezepte des Meisters nach seinem Tod im Jahre 270 v. Chr. kaum verändert wurden.
Als Lukrez, einer der größten Liebhaber seiner Kost, zweihundert Jahre nach Epikur dessen Philoso-phie in poetische Form brachte, wagte er, soweit sich das beurteilen lässt, zur Rezeptur des Meisters theoretisch nichts Neues beizutragen.(2) Doch diese Starrköpfigkeit wurde Epikur noch zum Verhängnis. Als nämlich im Mittelalter ein neuer Geschmacks-Mainstream die Mäuler des Volkes zu füllen begann, wurden seine Rezepte, so glaubte man, ein für alle Mal aus dem Gedächtnis gelöscht. Warum? Ganz einfach. Die Kirchengelehrten konnten einfach nicht begreifen, wie ein Mensch sich hinstellen und behaupten kann, er sei der Meisterkoch, wo er doch nur ein Mensch war. Sie waren fest davon überzeugt, dass es diesen wirklichen Meisterkoch gibt, ja geben muss. Sein Sohn sei von den Römern auf ein Kreuz genagelt worden, so dass er schließlich den Gelehrten die richtigen Zutaten hinterlassen habe können. So wurden nach seinem Tod diese Zutaten, und nur diese Zutaten, verwendet, um den Geschmack des Lebens zu bestimmen. Alles andere wurde in den bitteren „Giftschrank" geworfen. Darunter fielen auch Epikurs Kochbücher. So blieb der negative Beigeschmack Epikurs als der eines Mannes, dessen Erfolg allein darauf beruhe, dass er sich an die niederen Instinkte des Menschen wende und sie mit dem Geschmack zu rechtfertigen versuche, bis in die Neuzeit bestehen.(3)
Als dann 1431 Lorenzo Valla seinen Dialog De voluptate veröffentlichte, in dem ein Stoiker, ein Epikureer und ein Christ gegeneinander antraten, um - in der Sprache unserer Zeit - ein Kochduell auszutragen, kam man in Italien wieder auf Epikurs Geschmack. Erst einmal auf den Geschmack gekommen, verbreiteten sich seine Rezepte schnell. Thomas Hobbes, Gottfried Wilhelm Leibniz, sogar Isaac Newton standen in der epikureischen Küche. Als dann Arthur Schopenhauer, Ludwig Feuerbach und Friedrich Nietzsche auf dessen Rezepturen kamen, war es endgültig vorbei mit den Phantasien eines transzendenten Meisterkochs, der uns den vollendeten Geschmack des Lebens nur geben würde, wenn wir daran glaubten, dass die Torte im Backofen der Industrialisierung schon aufgehen wird, so dass alle schön brav ein Stück davon erhalten. Als dann noch der hartnäckigste Restaurantkritiker im 19. Jahrhundert gar seine Dissertation mit Zutaten Epikurs versetzte, war eine neue Epoche eingeleitet. Übrigens hieß der Mann Karl Marx. So lässt sich aus heutiger Entfernung die epikureische Gaumengeschichte grob darstellen. In jenen Epochen, in denen die Freiheit des Geschmackes beim Menschen eine besondere Rolle spielte, die religiösen Geschmacksverstärker hingegen kaum Verbreitung genossen, ist der Name Epikur in aller Munde. Im Gegenzug kann man sagen, dass die Epochen, die sich durch eine starke Religiosität auszeichneten, wie etwa das Mittelalter, seinen Namen geradezu als Schimpfwort für Häretiker gebrauchten.
Alles in allem ist jedoch zu sagen, dass die Rezepte Epikurs, die das Mittelalter überdauert haben und in unsere Zeit gelangten, meistens falsch zubereitet wurden. Zwar ist es schon richtig, dass die Rezeptur in den Lehren Epikurs vielleicht ein genüsslicheres Leben bereiten könnte, doch ist dies leicht falsch zu verstehen. Hedonismus ist nicht gleich Hedonismus, genau wie der Apfelkuchen der Oma nicht gleich dem Apfelkuchen ist, der uns in der Mensa vor die Nase gehalten wird. Denn Epikur geht es nicht etwa darum, Genuss auf Genuss zu häufen. Das Ziel seiner Philosophie ist vielmehr die Befreiung des Einzelnen von Unlust und damit von Angst, damit er unempfindlich gegen alle Schicksalsschläge sein Glück finden möge in Ruhe und Gelassenheit. Auch schwebt ihm nicht vor, die Lust ins Unermessliche zu steigern. Genau das Gegenteil ist der Fall. Er sieht für die Lust eine Art absolute Höchstgrenze, in dem Sinne, dass wir vollkommen frei sind von Unlust. Wenn das einmal erlangt ist, ist jedes weitere Begehren sinnlos, weil die Unlustfreiheit das einzige Gut ist und freier als frei von etwas niemand werden kann.(4) Bekommt man jetzt die epikureische Vorstellung von Hedonismus auf den Tisch, und im Vergleich dazu das heutige Modell des Hedonismus, so fällt der Unterschied in etwa so deutlich aus wie Oma und Mensa.
Sprich: Die Art, wie die Unlust beseitigt wird, ist vollkommen gleichgültig, sie hat keinerlei Einfluss auf die Höhe der Lust, da es allein darauf ankommt, dass die Unlust beseitigt wird.(5) Das Essen selbst dient nur als Mittel zum Zweck. So kann er denn verkünden: „Die schlichten Suppen bereiten die gleiche Lust wie eine aufwendige Kost, sooft das Schmerzende des Mangels ganz beseitigt wird, und Brot und Wasser verschaffen die höchste Lust, wenn einer sie aus Mangel zu sich nimmt. Die Gewöhnung an die einfachen und nicht aufwendigen Lebensweisen trägt also nicht nur zur Gesundheit bei, sondern macht den Menschen auch zielsicher in den notwendigen Verrichtungen des Lebens, lässt uns in einer besseren Verfassung, wenn wir in Abständen zu den Aufwendigen gehen, und macht uns furchtlos gegenüber dem Zufall." (Men. 130f.)(6) Hier schmecken wir das erste Mal den komischen Nachgeschmack, von dem in der Einleitung die Rede war, den jene Personen, die ihr Leben dem High-Society-Hedonimsus im Namen Epikurs widmen, allzu gern auszuspucken pflegen. Ein Kurzschluss, von dem die meisten gar nicht wissen, dass sie ihn begehen. Das liegt wohl daran, dass das Glück (gr. eudaimonia) fälschlicherweise als ein objektiver Tatbestand hingenommen wird, ähnlich wie in vorhellenistischer Zeit - also vor Epikur.
Die heutige High-Society-Welt lebt uns genau jene objektive Glückseligkeit vor, die auch Platonikern und Aristotelikern das Wasser im Mund zusammenlaufen lässt. Es ist daher kein Zufall, dass gerade das Mittelalter jene Köche schätzte, die an einen objektiven Geschmackssinn aller Menschen glaubten. Heute braucht man nur das TV-Gerät einzuschalten, schon wird man überhäuft von Stars, die jedem Einblick in ihr „Glück" gewähren, so dass man immer wieder daran erinnert wird, was nicht alles fehlt, um das ersehnte Ziel zu erreichen. Meistens Geld. So laufen wir zu den Banken, nehmen Kredite auf und schmeißen sie bewusst in den Wirtschaftsmixer, weil wir unbewusst davon träumen, nur einmal im Leben jenes objektive Glück zu schmecken, welches uns Tag für Tag durchs Fernsehen schmackhaft gemacht wird. Natürlich gibt das keiner zu, denn wer würde bewusst zugeben, etwas zu machen, um sein Unterbewusstsein zu befriedigen? Daher ist es auch kein Zufall, dass sich Freud in seiner Geschmacks-Psychoanalyse der griechischen Mythologie bedient, um uns zu erklären, was sich hinter unseren bewussten Geschmacksorganen eigentlich abspielt.
Die Schlimmsten sind aber nicht diejenigen, die unbewusst diesen Zielen nacheifern. Sie sind Opfer dieses Mainstream-Geschmacksinns, genau wie wir selbst es sind. Jeder, der das Gegenteil behauptet, belügt sich selbst. Viel schlimmer ist es, bewusst zu glauben, dass diese TV-Welt wirklich glücklich macht. Das Witzige daran ist, dass Aristoteles an ein „ähnliches" Weltbild glaubte. Denn auch bei ihm ist die Eudaimonie nicht etwas, das vom persönlichen Bewusstsein abhängt, sondern ein objektiver Tatbestand, von dem sogar denkbar ist, dass jemand ihn erfüllt, ohne es selbst zu wissen. Dass also jemand glücklich ist, ohne es zu merken. Das schreit nach psychologischer Geschmacksaufklärung. Epikur hält nichts von diesem objektiven Geschmacks-Hokuspokus. Bei ihm geht das Glück vom Individuum aus, welches sich alle seine Zwecke selbst setzt.
So ist die epikureische Lebensweise in erster Linie süß, weil sie uns befreit von irgendwelchen abergläubischen Ängsten vor jenseitig-feurigen Nachspeisen und uns zugleich erlaubt, vollkommen gelassen aufzugehen im Augenblick des Genießens. Das macht seine heutige Popularität aus. Der komische Nachgeschmack folgt erst, wenn wir den wahren Sinn des epikureischen Genießens erkennen. Es geht Epikur nicht bloß um ein naives sinnliches Genießen, sondern vielmehr um ein geistiges Genießen. Daher setzt Epikur eine Zutat an allerhöchster Stelle, ohne die nichts geht, die Phronesis, die Einsicht. Ließe man die Phronesis weg, so wäre es so, als wolle man einen Apfelkuchen backen, mit dem Handicap, keine Äpfel zu haben. Phronesis bezeichnet in der griechischen Philosophie die praktische Vernünftigkeit - aber eine Vernünftigkeit, die sich nicht die besten Mittel zu blödsinnigen Zwecken setzt, sondern eine Vernünftigkeit, die sich auch vernünftige Zwecke setzt.(7)
So schildert Epikur: „Für dies alles ist Anfang und das größte Gut Einsicht. Darum ist Einsicht sogar noch wertvoller als Philosophie. Aus ihr entspringen alle übrigen Tugenden, indem sie lehrt, dass ein lustvolles Leben nicht möglich ist ohne ein einsichtvolles, schönes und gerechtes, noch auch ein einsichtvolles, schönes und gerechtes ohne ein lustvolles. Denn die Tugenden sind mit dem lustvollen Leben von Natur verbunden, und das lustvolle Leben ist von ihnen untrennbar." (Men. 132)(6) Kurz gesagt, wenn man vorhat, eine Geburtstagstorte zu backen, sollte man nicht damit beginnen, die Kerzen in die Eier zu stecken - das wäre zu früh. Die Phronesis lehrt uns, die Eier zuerst in der Torte zu verarbeiten, bevor wir daran denken, die Kerzen in die Torte zu stecken und sie schließlich anzuzünden. Bei Epikur tritt also Phronesis, die praktische Vernunft, in Gegensatz zu sophia, dem theoretischen Wissen. Wenn Epikur also von philo-sophia spricht, meint er etwas anderes, als es die eigentliche Bedeutung ist, denn normalerweise umfasst Philosophie natürlich sowohl die praktische wie die theoretische Erkenntnis.(9) Er sah in der Philosophie viel mehr ein praktisches System, zu einem glücklichen Leben zu gelangen; erforderlich war dazu nur der gesunde Menschenverstand, nicht Logik oder Mathematik oder ein ausgeklügeltes Training, wie es Plato vorschrieb.(10)
Die Glückseligkeit ist für jedermann jederzeit unter allen Gegebenheiten realisierbar, weil es nicht mehr bedarf als der Phronesis, also der richtigen inneren Einstellung durch vernünftige Einsicht.(11) Selbst wenn etwas schiefgeht, weil eine Theorie falsch war, so schadet es nicht viel; denn wie soll ein Misserfolg einen Menschen, der frei von Ehrgeiz ist und weder Schmerz noch Tod fürchtet, erschüttern?(12) So soll Epikur sogar so weit gegangen sein zu behaupten, dass der epikureische Weise, wenn er bei lebendigem Leibe geröstet werde, noch ausrufen werde:(13) „Wie angenehm! Wie unberührt es mich lässt!" (Us. Fr. 600f.)(14) Das ist natürlich die konsequenteste Durchführung seiner Geschmacks-Philosophie, die jedoch seinen Gedanken, dass die geistige Einstellung des Einzelnen vor die sinnliche zu stellen ist, am anschaulichsten verdeutlicht. Den modernen Leser überrascht dabei am meisten, dass diese Ansichten - die heutzutage allgemein als düster und deprimierend gelten - als ein Evangelium der Befreiung von drückender Frucht hingestellt wurden.(15) Die meisten Menschen sehen in den religiösen Geschmäcken einen Trost des sonst so trostlos faden Lebens. Epikur jedoch hielt sie für das Gegenteil. Er nimmt die Wissenschaft als unmittelbares Werkzeug zur Glückseligkeit: Sie soll zum einen den richtigen Weg zum Glück lehren und zum anderen den Menschen von seinen Ängsten befreien.(16) Alles, was darüber hinausliegt, ist sinnlos, so insbesondere alle Detailforschung, sofern sie nicht ihre unmittelbare Glücksrelevanz nachweisen kann.(16)
Es bleibt also das ernüchternde Gefühl, dass wir uns nicht sicher sind, ob unsere heutigen Köche des Geschmacks in solchen Situationen ähnlich reagieren würden. Das wäre so, wie wenn Tom Cruise in Salzburg von Dach zu Dach hüpft, mit dem Bewusstsein, falls er abstürzt, werden seine letzten Worte im Fallen lauten: „Wie angenehm! Wie unberührt es mich lässt!" Kurz gesagt, während der ursprüngliche philosophische Hedonismus sich auf das Vermeiden von Unlust konzentriert, also die Abwesenheit von Schmerz, wird im modernen Verständnis das Erleben und Erstreben von Lust betont. Man erkennt hier die Schwierigkeiten, die eine epikureische Lebensweise in unserer Zeit mit sich bringt. Denn Epikur gerät mit dieser Rezeptur der Lust in Opposition zur alltäglichen Lebenserfahrung. Diejenigen, die von ihrer Oma gelernt haben, dass Hunger der beste Koch sei, müssen Epikurs Rezepte widerlich finden. Wenn Lust gleich Unlustfreiheit ist, so dass sie ihre Höchstgrenze mit völliger Abwesenheit aller Unlust erreicht, dann muss angenommen werden, dass sie mit zunehmender Unlust schwindet, was bedeutet, dass sie am geringsten ist, wenn die Unlust am größten ist.(18) Konkret gesprochen ergibt das, dass, je größer der Hunger, desto geringer der Genuss am Essen, je stärker der Durst, umso schwächer die Lust am Trinken ist.(18) Mit diesem Modell wird dem modernen Hedonismus entgegengetreten, der behauptet, dass der Genuss dann am größten sei, wenn das Bedürfnis am stärksten sei.
Aber es ergibt sich für den modernen Hedonismus die missliche Wendung, dass die Größe der Lust von der Größe der Unlust abhängt, so dass die Absurdität herauskommt, dass man, um sein Glück zu mehren, größeres Unglück suchen muss.(18) Genau das zeichnet unsere heutige Zeit so trefflich aus. Nehmen wir als Beispiel McDonald's. Warum gehen wir zu McDonald's? Wir gehen nicht zu McDonald's, weil er so gesund ist - nein, wir gehen dorthin, weil wir nach der - modernen - Hedonismusvorstellung das größere Unglück suchen, um so unser Glück zu mehren. Jedoch nicht bewusst, das wäre absurd, sondern unbewusst. Das haben die Marketingabteilungen der großen Konzerne längst durchschaut. Es reicht nicht mehr bloß aus, das Unbewusste im Konsumenten anzusprechen, man muss eine sozialpsychologische Stufe tiefer steigen, um auch das unbewusste Gewissen zu beruhigen. In der Tat ist dies ein Mehraufwand, der ganz schön teuer werden kann, aber nur so hat man am Ende Erfolg. In diesem Lichte sind auch die post-postmodernen Bio-Werbungen bei McDonald's zu verstehen. Als eine Manipulation unseres Unbewusstseins, um dadurch zugleich unser Bewusstsein zu stärken, das Richtige zu tun. Sprich: „Jetzt beißen wir noch bewusster in den Burger, weil wir unser lästiges Gewissen beruhigt haben." Ob der Burger jetzt wirklich gesünder ist? - Wohl kaum.
Der slowenische Philosoph Slavoj Zizek schnüffelt sehr intensiv an den wahrhaft schweinischen Exkrementen unserer Bio-Kultur. Denn nach diesen Strategien funktionieren heutzutage alle Mainstream-Geschmäcke-Machereien. Wer in der neo-neokapitalistischen Geschmackswelt mitmischen will, der darf diese Zutaten in seinen Gerichten nicht vergessen, wenn er keine selbstmörderischen Absichten verfolgt. Ein gutes Beispiel ist die jetzige Diskussion bezüglich des Kopenhagener Klimaskandals. Der Natur geht's schlecht. Die Medien machen es zum Thema. Die Folge ist die Entstehung eines gesellschaftlichen Bewusstseins. Wenn die Medien nun hartnäckig daran festhalten, ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass im Laufe der Zeit das anfänglich naive gesellschaftliche Bewusstsein ins Unbewusstsein schwindet. Voilà! Ein Gewissen ist entstanden.
Was machen nun die Mainstream-Geschmäcke-Macher? Nach einer anfänglichen Phase von Verbitterung stellen sie sich widerwillig um. Wer kann - wohl gemerkt. Jetzt isst man keinen „normalen" Burger mehr, sondern einen Bio-Burger, bei dem allerdings 20 Cent mehr verlangt wird. Mann will ja schließlich entschädigt werden, für die allzu plötzliche Schocktherapie, die bei der Umstellung der Werbestrategie nötig war. Ein gesundes Gewissen ist eben teuer. Aus dieser Analyse heraus scheint die epikureische Lebensweise dann doch noch schmackhaft zu werden. Zwar schließt sie ein Leben im Luxus aus, doch „könnte" sie wie eine Befreiung von den Fesseln des Mainstreamgeschmacks wirken. Daher rät uns Epikur, sich vom öffentlichen Leben fernzuhalten, denn wenn ein Mensch mehr Macht gewinne, so erhöhe er dadurch dementsprechend die Zahl der Neider, die ihm etwas Böses antun möchten. Der Weise ist bemüht, unbeachtet zu leben und sich niemanden zum Feind zu machen.(21)
Es zeigt sich, dass dieses Leben nichts für Menschen ist, die im Rampenlicht stehen, und noch weni-ger für die, die darin stehen wollen. Epikur bleibt eben ein schlichter Koch, der uns zwar die Süße des Lebens auf den Tisch bringt, aber nur, wenn wir bereit sind, Grenzen zu setzen. Also nicht sinnlos eine Zutat nach der anderen in die Suppe zu werfen, weil wir glauben, sie dadurch besser zu machen. Sondern sich mit dem zufrieden zu geben, was die Natur gibt. Eine Einstellung, die sich in allen antiken Kochbüchern finden lässt. Weswegen auch fast alle die Natur im Titel tragen.
Einen Haken hat diese Lebensweise. Sie setzt immer voraus, dass die Natur allen das Nötige gibt. Für einen antiken Denker wäre es unvorstellbar, in der Wahl seiner Zutaten nicht der Natur zu folgen, sondern anderweitig von Menschen abhängig zu sein. Es gab noch keine Supermärkte, die rund um die Uhr dafür sorgten, das Gefühl des „Ich kann, wenn ich nur will" in uns aufrechtzuerhalten. Deswegen fürchten wir uns alle vor jenen schrecklichen Tagen, in denen dieses Gefühl des „Ich kann nicht, auch wenn ich wollte" in uns aufgeht. Wie ist es sonst zu erklären, dass samstags die Schlangen an der Kassa am längsten sind? So geht es in unserer Zeit um ein Problem, welches unvorstellbar scheint, und doch ist es so. Ganz dem Gedanken Friedrich Nietzsches folgend: „Das Tier ist keine Bestie, aber der Mensch kann es werden." Auf der einen Seite der Welt haben wir Menschen, die essen wie „Schweine" - meistens sind das jene, die Epikur von irgendwoher kennen und sich fälschlicherweise mit ihm identifizieren. Auf der anderen Seite sterben Menschen, weil sie nichts zu essen haben. Nicht einmal die Natur gibt ihnen das Nötigste. Der Grund ist, dass durch das Aufzwingen der westlichen Geschmacksweise derjenige Hedonismus in den Köpfen der restlichen Welt verbreitet wurde, der sich so köstlich mit dem herrschenden Geschmackssystem arrangiert.
Die Größe der Lust hängt ja von der Größe der Unlust ab, so dass die Absurdität herauskommt, dass man, um sein Glück zu mehren, eben größeres Unglück suchen muss. So ist auf der Skala der Verbrechen nicht jenes ganz oben, welches die Menschen zu Armut und Unglück zwingt, um auf der anderen Seite der Welt das Gegenteil zu ermöglichen. Nein, das größte Verbrechen ist die Verweigerung von existenziellen Bedingungen. Also alleine die Möglichkeit zu haben, ein Feld zu bebauen oder das Nötigste aus der Natur zu holen. Wenn man Menschen diese Bedingungen nimmt, nur weil sie keine Kredite zurückzahlen können oder aus anderen ähnlichen Gründen, dann verweigert man ihnen nicht nur die nackte Existenz, sondern überhaupt, einmal im „Leben" das wahre Leben zu schmecken.
So gesehen müssten wir alle ein klein wenig Epikureer werden, uns persönliche Grenzen setzen, wenn wir uns nicht dem ungläubigen Kopfschütteln der Nachwelt aussetzen wollen, die uns den falschen Hedonismus vorwirft. Wie schwer das ist, hat der Kopenhagener Gipfel deutlich gezeigt.
Die Frage ist jetzt diese, wer sind nun die wahren Epikureer? Diejenigen, die nach immer mehr Lust streben? Oder diejenigen, die sich nichts sehnlicher wünschen, als die Unlust zu beseitigen? So zeigt sich ein glattes Paradox. Bevor man sich mit Epikur befasst, glaubte man ihn nirgends besser als in die westliche Konsumwelt packen zu könnnen. Bei genauer Betrachtung aber scheinen jene Menschen, die tagtäglich ums nackte Überleben kämpfen, der epikureischen Lebensweise näher zu sein als „wir". Jetzt kommt man dem wahren Geschmack der epikureischen Häppchen schon ziemlich nahe. Denn ich schreibe nicht als jemand, der sich anmaßt, diesen Geschmack schon mal genossen zu haben, sondern vielmehr als jemand, der sich bewusst ist, zu weit weg davon zu sein. Vielleicht ist das der erste Schritt auf dem Weg, allen Menschen die Möglichkeit zu geben, den Gang durch den orientalischen Bazar der kochenden Denker zu ermöglichen. Um selbst zu wählen, welches Häppchen jedem am besten schmeckt. So gesehen gibt es wohl keinen besseren Geschmack des Lebens als den der Epikureer.
Literaturverzeichnis
Weischedel, Wilhelm: Die philosophische Hintertreppe. München 2005.
Russell, Bertrand: Philosophie des Abendlandes. London 2007.
Hossenfelder, Malte: Epikur. München 2006.
Gadamer, Hans Georg: Von der Lust am Dialog, Kairos. Ein
Diskurs über die Gunst des Augenblicks und das weise Maß. Radiointerview von Bernd. H. Stappert, SWR 1989.
Epikur, Brief an Menoikeus.
H. Usener, Epicurea, Leipzig 1887. (Ed. Ster. Stuttgart 1966).