Unsere moderne Zeit ist so kurzatmig geworden, dass es uns kaum gelingt, mal Abstand zu gewinnen. Abstand zu den Terminabsprachen. Abstand vom permanenten Zeitdruck. Abstand vom Hetzen zu Veranstaltungen, Messen, Meetings, Pre-Meetings, Kick-Off-Meetings, Sitzungen und Seminaren. Schließlich, so scheint es, leben wir in einer Gesellschaft des Jugendwahns, da sie in ihrer permanenten Geschäftigkeit überhaupt nicht mehr wahrnehmen will, dass die Zeit genauso wenig angehalten wie das Altern aufgehalten werden kann. Aber wir wollen das nicht wahrhaben und hetzen so den Terminen, der in unseren Notebooks programmierten und damit geronnenen Zeit hinterher und verknappen auf diese Weise ein kostbares Gut. In der knappen Zeit fügen sich die subjektiven und die gesellschaftlichen Anforderungen wie zwei Seiten derselben Medaille zusammen.
Was soll ich sagen. Ich wollte einen Artikel schreiben, warum es nicht gelingen kann in der heutigen Zeit, wie Epikur zu leben. Aber ich schaffe es einfach nicht. Zu schreiben meine ich, zu leben noch weniger. Dabei, würde man sich einmal kurz die Zeit nehmen, einmal ganz schnell in der Bewegung verharren und sich für einen Moment eine Verschnaufpause gönnen, sich dabei selbst beim Atmen vernehmen und abwarten, bis der gesamte Organismus jubiliert beim Horchen auf die grundlegende Funktionsweise menschlicher Biologie, könnte man einiges für diesen Moment, oder nach diesem Moment, mit anderen Augen betrachten. Natürlich nicht mit anderen Augen, aber doch mit einem anderen Blick auf die Dinge.
Ich kann aber gerade nicht. Habe keine Zeit. Der Terminkalender ist voll. Meine Frau verlebt eine besonders schwierige Schwangerschaft und unser älteres Kind möchte nicht gänzlich auf elterliche Aufmerksamkeit verzichten. Dazu noch diese Verpflichtungen in der Agentur, die Absprache mit der neu zu gründenden Zeitschrift, der Auftrag eines anscheinend sehr zahlungskräftigen Kunden, das Buch über Trüffel, welches nicht nur die deutschsprachige Welt in ihrem Blick auf die heimischen Knollen revolutionieren soll, sondern zuvor auch einfach noch geschrieben werden will. Wo soll da die Zeit, die Muße, die Ruhe zur Einkehr herkommen, um einen anderen Artikel zu schreiben, einen, der nach antiker Philosophie, nach Reflexion und damit zwangsläufig nach dem einfachen Genuss verlangt?
Einfacher Genuss. Wie schön die lang verklungenen Sätze im Gedächtnis emporsteigen zu lassen: „Meine Freunde besaßen die Gabe der Zunge. Das heißt, sie verstanden zu schweigen."
Zusammen haben wir Zeit verbracht. Einfach so. Man könnte meinen, wir hätten sie verschwendet. Aber im Gegenteil. Wir haben uns so viel Zeit genommen, dass wir heute - Jahre nach dieser wunderbaren Begegnung - noch immer von diesem Moment reden können. So präsent, so lebendig ist er uns nach Jahren. Da er wie ein verbindender Turm der Ruhe aus dem hektischen Trubel herausragt.
Wir trafen uns lange verabredet an einem wunderschönen Morgen am Ufer eines Sees. Der Tag begann so schön wie unaufgeregt. Wir setzten uns in das Gras und schauten auf das von Bäumen grün gesäumte Wasser. Einer von uns - das war lange besprochen - brachte eine Flasche Wein mit zu unserem Ausflug. Er hatte Jahre zuvor einen seltenen Fund gemacht und wollte diesen im Kreise seiner Freunde teilen. Es war ein 20 Jahre alter Weißwein. Er wirkte in der perlenden, gut gekühlten Flasche wie ein zartes Versprechen aus der Vergangenheit. Der Wein hatte eine dunkle Färbung angenommen und schien einem Sherry näher als einem Chablis. Auch der Korken hatte mit den Jahren Farbe angesetzt und wirkte an den Rändern schon etwas porös. Alles hatte den Anschein eines Phasenübergangs. Die ganze Flasche machte auf uns den Eindruck, die Zeit, die sie auf uns gewartet hatte, eingefangen zu haben. Und in der Tat bemerkten wir, dass es so sein musste, dass diese Flasche ihren Inhalt genau für diesen Tag, für diesen Ort und diese Runde bewahrt hatte. Denn schließlich hatte das Jahr ihrer Abfüllung eine Menge mit unserer Geschichte, der Geschichte eines jeden von uns, mehr aber noch mit der Geschichte unserer Freundschaft zu tun.
So kam es, dass wir, bevor wir auch nur die Flasche berührten, in Gedanken den Weg der Zeit zurückverfolgten, bis wir in dem Jahr angelangt waren, das uns vom Etikett der Flasche angezeigt wurde.
Damals hatten wir in diesem Freundeskreis zum ersten Mal eine Flasche Wein gemeinsam geleert. Wie sehr sich unser Verhalten doch geändert hatte: damals sahen wir in der anderen zu dieser Zeit gegenwärtigen Flasche nichts anderes als einen schnell zu leerenden Inhalt. Die Flasche kreiste von Mund zu Mund und durch unsere Sprüche und Geschichten fühlten wir uns einander verbunden. Verbunden waren wir durch die allmählich einsetzende Anästhesie, der wir uns vereint hingaben.
Wie sich doch die Zeiten ändern. Kaum im doppelten Alter, wollten wir gemeinsam Zeit verbringen und nicht das Trinken empfinden, sondern durch das Trinken Geschmack zur Entfaltung bringen.
Wie könnte man zu einer sinnlichen Empfindung gelangen, wenn nicht durch die Weihen der Zunge durch den Wein? Wie oft schon hatten wir unabhängig voneinander unseren Durst gelöscht, unser Verlangen gestillt. Hier aber ging es um etwas ganz anderes.
Schließlich - das war uns ohne Verabredung und ohne ein weiteres Wort klar geworden - wurde hier die Zeit im alltäglichen Sinne ausgesetzt. Wir hetzten ihr nicht hinterher. Wir nahmen uns nicht nur die Zeit, wir reklamierten sie einfach für uns.
Ein wunderbarer Zustand, in dem man die Zeit verstreichen lassen kann, ohne einen Blick auf die Uhr werfen oder das Handy bedienen zu müssen. So kam es, dass wir nicht einfach trinken mussten, sondern schmecken konnten. Und dieser Moment des Schmeckens setzte ein, lange bevor der erste Tropfen die Zunge berührte. Die innere Einkehr begann schon mit der ruhigen Betrachtung der Flasche und setzte sich nun fort, als wir den Wein in unseren Gläsern erhoben, ihn gegen die Sonne hielten, um die Farbe zu betrachten. Wenn man Zeit hat, dann erlebt man Farben in einer anderen Art. Sie erscheinen wesentlich intensiver, facettenreicher, nuancierter. Die Farbe der Flüssigkeit ist nicht einfach nur ein schwer zu bestimmendes Amalgam, sondern greifbar, fast wie ein spürbarer Phasenübergang. Dann der Geruch, wir konnten es unseren Gesichtern gegenseitig ansehen, dass er uns begeisterte, und wir konnten uns an diesem gemeinsamen Erlebnis erfreuen, nicht den Moment in seinem schnell wechselnden Übergang erfassen und abhaken, sondern ihn durch unsere Freude ausdehnen, selbst mit der Zeit spielen und ihn so für unsere private Unendlichkeit gewinnen.
Dieser Moment wurde zu einem, von dem wir, ähnlich wie von dem gesamten Tag, später immer wieder sprechen sollten. Denn der Wein betäubte uns nicht, wir genossen seine anregende, belebende Wirkung.
Schon hier, in diesem angeblich so trockenen Stadium löste der ungetrunkene Wein unsere Zungen. Er beflügelte sie zu Worten, die sie sonst kaum zu formen wagten. Regte uns zu immer neuen Höhenflügen der in Worte kaum zu fassenden Begeisterung an. Dabei wollten unsere Zungen sich hier lediglich für das sensibilisieren, was ihnen der Geruch, der Blick und die gelöste Stimmung in Aussicht stellten.
So wurde der Wein zum Symbol für den Tag, der für uns so anders war als die meisten anderen und der von daher nicht wie viele andere aus unserem Gedächtnis verschwunden ist.
Der Tag wurde so zu einer wunderbaren Epi-Kur.