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Die gerettete Lüsternheit. Der Genuss am Genießenkönnen

Sebastian KNÖPKER.   

Lüsternheit kann nicht nur Geilheit sein, sondern in seiner raffinierten Form eine Lust, begehren und genießen zu können.

Bildet sich ein Kreis neuer Freuden im Begehren, so ist darin selbst ein Genuss gegeben, wie anhand der Erotik und des Essens und Trinkens gezeigt wird.

 

Begehren und genießen zu können, ist oft keine Lust für sich, da Lusthabenwollen und Lust auf unterschiedlichen Seiten stehen: was man will, aber noch nicht hat, ist einem Mangel und weder Fülle noch Freude. Das bloße Können und Wollen steht also auf der falschen Seite und ist für sich genommen keine Lust.

Diese Trennung zwischen dem bloßem Wollen und der Verwirklichung dieses Begehrens lässt sich einreißen, so dass bereits Verlangen und Genießenkönnen zu einer Freude werden, was sich gut an der erotischen Berührung zeigt. Dort wechselt das Begehren auf die Weise die hedonistische Seite, dass mit den ersten Berührungen Horizonte des Genießenkönnens gebildet werden, also ein Kreis möglicher Freuden erst erweckt wird, wie beispielsweise der am Riechen. Der Geruchssinn erwacht nur zu bestimmten Gelegenheiten und führt meist ein Schattendasein. Die erotische Begegnung weckt nun den halb betäubten Sinn aus seiner Erstarrung und findet Gefallen an Gerüchen, die sonst unbeachtet bleiben oder als eher unangenehm empfunden werden.

Wenn die Lust am Riechen erwacht, dann erwacht auch ein ganzer Horizont an möglichen Genüssen, die einem plötzlich offenstehen. Diese Genussmöglichkeiten bilden für sich einen Genuss, wenn man sich darauf einlässt und den neuen Möglichkeiten als solchen Aufmerksamkeit schenkt. Dabei entsteht diese Lust nebenher: während man schon riecht, hat man Lust an den unausgeschöpften Möglichkeiten, Lust am Riechen zu empfinden. Die Lust am Möglichen tritt also zum gerade Verwirklichten hinzu; beide verstärken sich und bilden eine Lust in der Lust.

Wer diese Lust am der Lust nicht kennt, der kennt sicher ihr Gegenteil, die Unlust an der Abnahme der Genussfähigkeit. Trinkt man sein viertes oder fünftes Glas Bier, kann es vorkommen, das man durch ein Mehr an Trinken nicht ein Mehr an Lust, Kraft und Auftrieb hervorbringen kann. Spürt man auf diese Weise, mehr und mehr unfähig zur Lust zu sein, bildet das in sich eine Unlust, und man fühlt sich unwohl, weil der Horizont der offen stehenden Lüste sich zunehmend verengt und das Bier aus seinem Kreis ausschließt. Man spürt, dass es von nun ab mit den Genüssen nicht mehr weiter gehen wird und erlebt darin ein Unbehagen.

In der Erotik kann dasselbe bereits von Anfang an erlebt werden, wenn nämlich mit den ersten Berührungen und Liebkosungen das Begehren und Genießenkönnen, das bislang nur ein sicheres Verlangen aus der Ferne war, sich nicht in der erotischen Begegnung entfalten kann.(1) Solange man das Begehrte nicht hat, ist es einfach, das Gewollte zu verlangen. Hat man es aber, so muss dieser Wille sich neu entfalten, beginnend mit den ersten Berührungen, Blicken und Küssen, welche neue Kreise der Empfindungshorizonte bilden müssen. Erschließt sich diese erotische Welt nicht und treffen sich nur warme weiche Massen, die füreinander wenig empfinden und keine gemeinsame Mitte bilden, dann wird man an der Unmöglichkeit, sich erotisch zu freuen, leiden. Niemand vergisst, darunter zu leiden, während dieselben Menschen oft an der Öffnung und Bildung eines Kreises neuer Freuden vorbeiempfinden. Erst wenn sich also ein Kreis nicht öffnet, verengt oder schließt, wird das als etwas Leidvolles erfahren.

Wer sich aber in der Unmöglichkeit zu genießen erleidet, der besitzt Feinfühligkeit genug, sich auch an den sich abzeichnenden freudvollen Möglichkeiten zu erfreuen. Beide Richtungen stehen offen, wobei das Leiden an der Unfähigkeit zur Freude sich von sich aus meldet, ohne alles Zutun also, während die Lust am Genießenkönnen oft unbeachtet bleibt, weil sie als das Selbstverständliche angesehen wird. Dabei ist es oft so, dass der Drang möglichst bald ,noch mehr und noch intensiver Lust zu erleben die Aufmerksamkeit auf eine Zukunft verlagert, die so viel verspricht, dass die Zunahme des Genussvermögens unbeachtet bleibt oder vielmehr regelrecht überfahren wird.

Das sieht man gut beim unerfahrenen Trinker, der gar nicht genug trinken kann, und sich so sehr auf das In-sich-Reinschütten konzentriert, dass er an Teilen seiner Lust vorbeitrinkt. So kommt es zu einem hedonistischen Selbstbetrug, der darin besteht, dass die Freude an der Zunahme der Genussfähigkeit durch ein zu schnelles Trinken übergangen wird. Die Lust am Trinken ist dann immer noch da, aber diese Lust hat die Lust an dem Empfindenkönnen erdrückt, ohne dass man überhaupt merkt, dass hier ein Betrug vor sich geht. Derselbe Betrugseffekt findet sich auch beim erotischen Erleben, beim Sex und ganz allgemein bei den Freuden, die es so eilig haben, empfunden zu werden, dass die Freude an der bloßen Fähigkeit, empfinden zu können, übergangen wird.(2)

Ist das zu schnelle Trinken ein Betrug, so gilt dasselbe auch für den Genuss, der zu sehr auf die reine Gegenwart setzt. Der geübte Weintrinker trinkt sein erstes Glas und freut sich nicht nur Schluck für Schluck am Wein, sondern auch daran, sich Stück für Stück weiter in die Welt des Weines und seiner Lüste zu begeben. Seine Fähigkeiten, zu schmecken und zu genießen sind so wie bei der Erotik nicht auf einen Schlag da, sondern bilden sich nach und nach im Trinken selbst. Eine Kultur des Weintrinkens setzt gerade auf diese Entfaltung des Genießenkönnens und hat es daher nicht eilig; nicht weil es zu viel Zeit gäbe, sondern weil sich in dieser Zeit, die der Weintrinker sich nimmt, seine Geschmacksfähigkeiten erweitern und verändern, so dass er diese Welt des Geschmacks, die sich in ihm bildet, miterleben kann.

Hat der Weintrinker dabei auch noch so sehr viele Erfahrungen und einen noch so ausgeprägten Geschmack, so kann er dieser Entfaltung seines Geschmacks doch immer wieder aufs Neue in sich erleben. Bedingung hierfür ist es aber, sich weder auf das Genießen in der Gegenwart zu beschränken, noch auf das möglichst schnelle Zutrinken in eine verheißungsvoll lustvolle Zukunft. Zu sehr in der Gegenwart und damit in der Wirklichkeit zu sein oder zu sehr auf die Zukunft zu setzen, die mehr verspricht, als sie hält, lässt das Vermögen zu genießen nicht zu seinem Recht kommen.

So wie nun es niemand in Zweifel ziehen würde, dass man sich den Geschmack am Wein antrinkend bilden und am Wein selbst arbeiten muss, so gilt dies allgemein für den Geschmack an der Lust selbst. Gemeint ist hier die Lust am Begehren und das Vermögen, genießen zu können. In der Lust am Weintrinken findet sich die Lust, den Wein begehren und genießen zu können, wobei dieser Genuss oft im Willen zur Lust untergeht. Die Lust in der Lust zu entdecken, also die Freude am Freude-Haben-Können, bedeutet, einen Platz freizuhalten für etwas, das nicht sicher kommt und nicht gewollt werden kann. Genussorientiert seinen Wein zu trinken, heißt weiter, einen Genuss an der Ausweitung seiner Genussfähigkeit zu empfinden. Und so wie beim Sex der Genuss am Anfang wirklich nur den Anfang bildet und im Laufe der Begegnung zunimmt und in dieser Zunahme eine Lust für sich ist, so verhält es sich auch mit dem Trinken. Vom ersten Schluck an bereitet der Wein oder das Bier Freude, und vom ersten Schluck an kann sich zudem die Genussfähigkeit am Alkohol steigern, was der unerfahrene Trinker nicht erleben kann, so wie der Alkoholiker es nicht mehr erleben kann, da er diese subtile Lust zusammen mit vielen tausend Flaschen Wein, Bier und Schnaps verbraucht hat.

Das Vertrauen des Hedonisten, ja sein Glaube an die Lust, besteht genau hierin: auf eine Lust zu bauen, die sich nicht an äußeren Dingen festmachen lässt und die sich durch nichts ankündigt.(3) Dieses Vertrauen bezieht sich auch darauf, einer großen Lust, die zum Greifen nahe liegt, so wie im Falle der Erotik, nicht nachzugeben, um einer Lust, die noch nicht da ist nachzugehen. Man kann sich diese Lust auch nicht einfach merken, so wie man sich merkt, dass eine bestimmte Landschaft besonders schön ist, so dass man sich vornimmt, nächstes Jahr dort hin zu fahren. Es gibt keine Vorstellung von der Lust, die sich da ergeben kann, da diese ja nur im bloß Möglichen besteht.

Verläuft die erotische Begegnung in einem idealen Sinne, so bildet sich schon vor der ersten Berührung im bloßen Begehren ein erotischer Leib im Leib. Im Körper zeichnen sich mögliche Berührungen ab, ja ein ganzes Feld von Arabesken und Vorzeichnungen erotischer Empfindsamkeit, das vorher noch nicht da war. Der erotische Leib erwacht und damit auch die Lust an der Fähigkeit zur erotischen Empfindung. Dieses reine Können ist bereits ein angenehm beunruhigendes Behagen, so wie auch das Erwachen eines kranken Leibes im Leib. Ein Rheumaanfall etwa kündigt sich nicht nur durch kleinere Schmerzen an, sondern auch durch eine Abzeichnung künftiger ziehender, reißender und wandernder Schmerzen an. Was an Schmerzen ausstrahlen wird, ist noch gar nicht da, legt sich aber wie vorskizziert über den noch gesunden Leib. Auch hier gibt es Arabesken des Leibes, die gereckt, gedreht und gestaucht sind, nur all das nicht als bloße Ornamente an der Oberfläche, sondern als Empfindungen des Leibes in der Tiefe, die den Weg in das kommende Empfinden weisen. Entsprechend ist dieser Vorlauf in das Bevorstehende ein Grauen im Falle des Rheumaschubs und ein Behagen in der Erotik.

Die ersten erotische Berührung, die auch tatsächlich Freude bereitet, kann eine Steigerung der Genussfähigkeit mit sich bringen, also das Gefühl, mehr und intensiver genießen zu können. Der Moment, in dem man spürt, dass man fähig ist, Lust zu empfinden, wo man gerade zuvor noch nichts empfinden konnte, ist eine Lust für sich. Die Mächtigkeit in sich aufsteigen zu fühlen, nun etwas Lustvolles erleben zu können, ist dabei keineswegs eine Vorstufe zur eigentlichen Lust oder nur ein abstraktes Versprechen, denn wenn sich neue Räume des Genießens auftun, dann ist das nicht nur die Bestätigung eines Versprechens zu genießen: der Genuss selbst meldet sich hier bereits. So wie beim Rheumaschub bildet sich ein Leib im Leib: aus einem kaum spürbaren Leibempfinden schält sich ein Rheumaleib heraus, der da, wo vorher kaum etwas empfunden wurde, einen eigenen Mikrokosmos des schmerzhaften Ziehens, Wirbelns und Reißens erschafft.

Auch die Lust am Essen und Trinken ist eine leibliche, die ebenso wie die Erotik erwacht und in diesem Erwachen eine Lust sein kann. Der gewiefte Weintrinker wird dabei seinen Geschmack immer weiter verfeinern und auch verlagern, so dass einige der Weine, die vor einiger Zeit noch ungenießbar waren, früher oder später zu einem Genuss werden. Diese Durchbrüche von der Ungenießbarkeit oder Fadheit zum Genuss bilden eine Freude am Freude-haben-Können. Eine solche Freude ist eine im Moment und kann darüber hinaus auch das Weintrinken insgesamt mit ausmachen, nämlich in der hintergründigen Lust, sich immer wieder solche Durchbrüche zum guten Geschmack zu ertrinken. Der Weintrinker bewegt sich dann in einer positiven Spannung, immer wieder besondere Momente seiner Geschmacksverfeinerung zu erleben, die sich zwar nie vorher konkret ankündigen, aber doch hintergründig stets präsent sind. In der geschmacklichen Bandbreite des Weines werden sich für ihn immer neue Geschmackserlebnisse bilden, die stets auch eine Freude an seinem Genießenkönnen sind.

Das ist eine im wahrsten Sinne höchst erfreuliche Fähigkeit, die allerdings einer Kultur des Empfindens bedarf. Eine Unkultur findet sich darin, möglichst schnell vom Wollen zum Genießen und von dort zur Steigerung des Genusses fortzuschreiten. Eine Kultur wird daraus, wenn man sich einen Sinn dafür erwirbt, die Zunahme des Genießenkönnens in sich zu realisieren, also in sich den Aufbau dieses Horizontes zu erleben. In dem Sinne geht es nicht um die Maximierung von Lust, sondern um das Gewähren eines Raums, in dem sich etwas entwickeln kann, nämlich das reine Können, Lust zu erleben.(4)

 

 

Literatur

Husserl, Edmund: Analysen zur passiven Synthesis, aus Vorlesungs- und Forschungsmanuskripten 1918-1926, Den Haag, Hg. M. Fleischer, Hua XI, in: Gesammelte Werke. Den Haag/Dordrecht/Boston/Lancaster 1966

Knöpker, Sebastian: Existenzieller Hedonismus. Freiburg/München 2009

Marion, Jean-Luc: Das Erotische. Ein Phänomen, übers. v. A. Letzkus. Freiburg/München 2010

Misrahi, Robert: La jouissance d'être: Le sujet et son désir, essai d'anthropologie philosophique. Paris 1996

Knoepker (48k)

Quellen, Anmerkungen

  1. Vgl. Marion, Das Erotische, 98 ff.  
  2. Vgl. Edmund Husserls Begriffe „Zug" und „iteratives Moment" in: Husserl, Analysen zur passiven Synthesis, 17 ff.  
  3. Vgl. Misrahi, La jouissance d'être, 251 ff.  
  4. Vgl. Knöpker, Existenzieller Hedonismus, 134 ff.  
Foto: WIBERG