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Epikur Journal 01/2019: Der gute Geschmack: Epikur Journal 01/2019: Editorial

13.12.2019  

Liebe Leserinnen und Leser,

die Adventszeit steht ganz im Zeichen vorweihnachtlicher Unternehmungen. Advent - vom lateinischen adventus herstammend - steht als Begriff selbst bereits für die Zeit der Ankunft. Christen in aller Welt bereiten sich in diesen Tagen auf das Hochfest ihrer Religion vor, auf die Geburt Jesu Christi. Schon lange vorbei und vergessen sind die Zeiten, in denen die Adventszeit einst eigentlich eine Fastenzeit gewesen ist. Davon merkt man in diesen Tagen wahrlich wenig. Allerorten steigen einem weihnachtliche Düfte und Gerüche in die Nase, es gibt Schlemmereien auf festlich dekorierten Weihnachtsmärkten, es gibt all die Weihnachtsfeiern mit ihren dazugehörigen Verköstigungen und es gibt längst nicht nur an Nikolaus schon ein paar vorweihnachtliche Geschenke und diese auch nicht nur für „die Kleinen".

Wir als moderne Epikureer wollen diesen sinnlichen Genüssen und kleinen Geschenken nicht mit dem derzeit allzu beliebten asketischen Zeigefinger des Verzichts entgegentreten. Stattdessen wollen wir das Schöne, das Erfreuliche, das Anregende und das Vergemeinschaftende unterstützen, das in diesen vielfältigen schönen Dingen in diesen guten Tagen liegt. Und so haben wir auch wir mit der neuen Ausgabe des EPIKUR-Journals ein paar kleine, gedankenanregende Geschenke dabei.

In dieser EPIKUR-Ausgabe dreht sich alles um den „guten Geschmack" in seinen unterschiedlichen Facetten. Sogar wenn sich der erste Beitrag von FELIX BRÖCKER zunächst einmal der „Suppenkunst" zuwendet. Der Autor schaut sich die Kunst und die sich darin widerspiegelnden kulinarischen Geschmacksvorlieben Andy Warhols an, der aus seiner Faszination für industriell produzierte Lebensmittel und für Fast Food keinen Hehl gemacht hat. Heutzutage schon fast wieder eine rebellische Haltung gegen den Zeitgeist.

Dass guter Geschmack allerdings immer auch mehr erfordert als nur ein handwerklich gutes Produkt und jemanden, der in der Lage ist, dies auch zu erschmecken, macht ANNELI KÄSMAYR zum Mittelpunkt ihres Artikels. Sie fügt in ihrer Analyse die Atmosphäre hinzu, die zu einem gelungenen Essen zwingend dazu gehört und in der und durch die sich viele Aspekte vermitteln lassen. Die Gestaltung des alimentären Raums ist für das Erleben des Essenden von fundamentaler Bedeutung.

Auf einen kulinarischen Grenzgang nimmt uns ANDREW MUELLER mit, er ist Spezialist für Entomophagie, also für den Verzehr von Insekten. Und dass das sehr viel mehr bedeuten kann, als einfach ein paar proteinhaltige Würmer zu Mehl zu verarbeiten und mehr oder weniger heimlich als Zutat in Power-Schokoriegeln zu verstecken, wird in seinem Artikel deutlich. Mit etwas Neugier und vielleicht auch mit etwas mehr Mut, gibt es hier Speisen zu essen, die die Grenzen des guten Geschmacks - nein, nicht überschreiten, sondern - erweitern können.

Grenzgängerin des Geschmacks und zudem eine ausgewiesene Fein- und Hinschmeckerin ist ESTHER KERN. Kein anderer Name ist so sehr mit der Idee von FROM LEAF TO ROOT („Vom Blatt bis zur Wurzel") verknüpft wie der ihre. Die Idee dahinter ist, dass von einer Pflanze, die zur Essenszubereitung genommen wird, prinzipiell nichts weggeworfen werden muss. Im Gegenteil sind es oftmals nur intransparente Nahrungstabus oder fehlendes Wissen über Verarbeitungsoptionen, die uns dazu verleiten, Blätter, Wurzeln, Kerne und so weiter in den Abfall zu geben anstatt die sich in ihnen verbergenden Geschmacksgeheimnisse (wieder) zu entdecken.

Bei so viel Essen muss man natürlich auch mal einen Schluck trinken! Überhaupt sollte man mehr auch über Getränke sprechen und zwar nicht nur über Wein. NICOLE KLAUSS macht das. Sie schreibt über die Geschichte des Trinkens und dabei interessiert sie vor allem die Geschichte des alkoholfreien Trinkens in einer in weiten Teilen alkoholisierten Welt. Ihre Beschäftigung mit einer neuen Trinkkultur zeigt, dass auch in dieser noch viele gute Nuancen und Geschmacknoten verborgen liegen, auch wenn sie in einer doch immer noch stark auf Wein und Bier fokussierenden alimentären Genusskultur längst nicht den Stellenwert erhalten, den sie verdienen.

Unbeschwertes Genießen, gerade von unbekannten Speisen und Getränken, heißt aber auch, dass die Möglichkeit gegeben sein muss, sich fallen lassen zu können und sich keine Gedanken darüber machen zu müssen, dass das, was da auf dem Teller liegt oder im Glas glänzt, womöglich eine unheilvolle Täuschung ist. Dennoch - von Zeit zu Zeit kommt es zu einem Skandal. Irgendwer hat wieder irgendwo gepanscht und der Verbraucher hat es gar nicht gemerkt. Wie kann das sein? Mangelnde Verbraucherbildung lautet das Stichwort und die sollen die Menschen endlich erhalten. Also, sie bekommen sie geradezu verschrieben. JUDITH BEYRLE hat sich dieses hehre Unterfangen von schier unabschließbaren Ausmaßen einmal genauer durch die soziologische Brille angeschaut. Und wir wollen Sie, liebe Leserinnen und Leser, an dieser Stelle nicht verunsichern, aber wie das so ist mit Idealen: der vollumfänglich informierte Verbraucher wird wohl auch in Zukunft vor allem wissen, dass er nichts - oder zumindest nicht viel - weiß.

Ein bisschen Wissen ist aber durchaus drin. Besonders wenn man es so anschaulich und schmackhaft vermittelt bekommt wie bei NIKOLAI WOITKO, der uns auf Reise durch die Geschichte der Currywurst mitnimmt und deren spezifische Produktmentalität präsentiert. Es ist keine Kleinigkeit, dass man auch bei der Zubereitung und beim Verzehr der Currywurst vieles richtig oder auch vieles noch besser machen kann. Wer das nicht beachtet provoziert, dass dann das alte Sprichwort „Über Geschmack lässt sich (nicht) streiten" wieder einmal seine Gültigkeit beweist.

Die Currywurst bekommt man nur ab und an mal auf einem Teller serviert, zumeist erhält man sie in einer Schale, in der sich nicht selten auch noch Pommes frites befinden. Manch einer sah darin ja auch schon mal einen Kratzer oder gar einen Sprung in der Keramikschüssel der gediegenen Esskultur. Wobei die Schüssel gerade ihr Comeback feiert. MARKUS SCHRECKHAAS erinnert uns daran, dass es eine Zeitlang im Bürgertum durchaus als sittliche Errungenschaft gefeiert wurde, dass nun jeder Essende sein eigenes Gedeck, seinen eigenen Teller erhielt, auf dem die unterschiedlichen Komponenten des Mahls mehr oder weniger getrennt voneinander ihren Platz fanden. Der Essende war dann frei ins seiner Entscheidung und Wahl, diese beim Verzehr wieder miteinander zu vermengen - wenn er es denn wollte. Nicht so bei der Nahrungsaufnahme mittels einer „Bowl" (oder eines „Napfs", wie zu sagen auch möglich wäre), dem gegenwärtigen Star der perfekt mit den richtigen Filtern ausgeleuchteten Food Porn-Szene.

Ein zeitloser Klassiker - fast schon Vintage Style - der guten Geschmackswelt ist die Milch. Also für alle, die nicht gerade von Laktoseintoleranz geplagt sind. Doch selbst für jene ist zumindest die Muttermilch - oder ein dieser nachempfundenes Surrogat - der erste gustatorische Kontakt mit der sie nun umgebenden Welt gewesen. Über die Milch fangen wir Menschen an, uns das Leben geschmacklich zu erschließen. LEON JOSKOWITZ hat darüber eine Glosse verfasst, wie die Welt ihren (guten) Geschmack erhält.

Als Abschluss dieser Ausgabe finden Sie, liebe Leserin und lieber Leser, ein Plädoyer für mehr Genussliberalismus. Denn die guten Zeiten sind zumeist auch jene Zeiten, in denen manch einer am liebsten auf alle süßen (und salzigen und fetten und überhaupt alle) Sünden gerne eine dicke rote Warnung stempeln würde. In dramatischen Reden mit erhobenen Zeigefinger wird uns vorgehalten, wem in aller Welt beim Naschen und Schlemmen schon einmal der Hosenknopf geplatzt ist. Statt einmal erkämpfte Freiheiten und Genussmomente zu vereidigen, erscheint es en vogue, Verbote zu fordern. Zumindest aber soll man beim Genießen ein schlechtes Gewissen haben und selbst noch beim Glühwein von der Seligkeit zukünftiger Askese sprechen. Im Advent bietet es sich jedoch an, um Zuversicht sowie um das gute Leben mit einem guten Geschmack für jedermann zu werben. Der menschgewordene Gottessohn verwandelte schließlich Wasser in Wein, nicht umgekehrt, und von Nahrungsverboten hielt er bekanntlich wenig (Mt. 15,11).

Wir Herausgeber und die Redaktion des EPIKUR-Teams wünschen Ihnen, immer auch ein bisschen augenzwinkernd, eine anregende Lektüre der hier versammelten Artikel. Wenn es im Anschluss daran zu dem ein oder anderen fruchtbaren Gedankenaustausch kommen würde, vielleicht bei einem guten Essen, ist schon viel erreicht. Wir jedenfalls bleiben zuversichtlich und wollen abschließend den friedensstiftenden Weihnachtswunsch formulieren, dass eine Welt möglich ist, in der Cremetorte, Plätzchen und Christstollen zu den Grundnahrungsmitteln aller Menschen zählen.

Ihr Daniel Kofahl

 

„Beautiful things only offer themselves to those who offer themselves to beautiful things."

Antoine Hennion, Paying Attention: What is Tasting Wine About?

 

Der gute Geschmack