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Was heißt und wozu hier Gastrosophie?

Lothar Kolmer.   

Die gastrosophischen „Gefilde", die wir künftig gemeinsam „durchwandern" wollen, eröffnen, „dem denkenden Betrachter so viele Gegenstände des Unterrichts, dem tätigen Weltmann so herrliche Muster zur Nachahmung, dem Philosophen so wichtige Aufschlüsse und jedem ohne Unterschied so reiche Quellen des edelsten Vergnügens"; dass wir die ersten Schritte getan und das dafür - passende - Zitat von Friedrich Schiller samt der Überschrift entlehnt haben. Schiller bezog sich 1789 bei seiner Antrittsvorlesung in Jena auf die Geschichte; diese bildet auch einen Teil unseres Arbeitsgebiets. Die Überschrift hat ihre Berechtigung, da das „Zentrum für Gastrosophie" jetzt an die Öffentlichkeit tritt (Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte. Eine akademische Antrittsrede, Jena, 26. Mai 1789).

I.

Wozu Gastrosophie? Lassen Sie mich mit der Frage beginnen und dafür drei Beispiele bringen:

  • ein regionales,
  • ein überregionales,
  • ein nationales.

Bringen wir dem Genius Loci den gebührenden Tribut. Das Salzburger Nockerl kennen alle, nicht alle mögen es. Doch der spezifische Zuckeranteil hat schon Hinweischarakter: bei Anna Strobl: 2 Msp. Zucker - angeblich das „Original" -Nocken-Rezept aus Golling (bei Salzburg)! Bei Katharina Prato: Nockerl: 5 dkg, bei Franz Maier- Bruck: 40 gr. (= eingedeutscht!) als Nockerln.

Wieso soll das „Original"-Rezept aus Golling stammen? Aber dann der Name? (Auch die Pluralbildungen verdienten extra Aufmerksamkeit!) Nahm es den von der nahegelegenen Stadt oder brachte die Köchin das Rezept aus der Stadt mit? Oder kam das Rezept ursprünglich vom Land in die Stadt und dort erst bekam es den Namen und kehrte wieder zurück? Vieles scheint momentan denkbar, denn zu allen Zeiten „migrierten" Köche, Rezepte - und die Begriffe. Es handelt sich um einen großen und großartigen Kulturtransfer, der noch kaum untersucht ist; er scheint aber nicht als Einbahnstraße von den Zentren her erfolgt zu sein. Mit den Dienstboten, vor allem den Köchinnen, kamen deren regionale Rezepte in die Städte, während auf dem Land eher ein konservativer und sparsamer Geist der Beharrung herrschte. Den schildert Franz Maier-Bruck, der große Kenner der Küchentradition, am „städtischen" Gugelhupf, der sich zuhause nicht gegen die „bäuerlichen" Rohrnudeln durchsetzen konnte; er verwies im übrigen auf das Salzburgische Kochbuch des Konrad Hagger von 1719 als Quelle für die Salzburger Nockerl. Doch die finden sich dort nicht, weder Name noch Zubereitung. Das „Salzburgische Kochbuch" enthält nicht die Nockerl, dafür aber die damalige - internationale - haute cuisine, die Küche der kleinen adeligen Oberschicht. Was darin Salzburgisch ist, wäre noch zu untersuchen

Das Salzburgische Kochbuch steht in seiner Zeit - neben einem Kölnischen, Augsburgischen, Dresdner, um nur einige zu nennen. Die Bezeichnung nach Orten erfolgte damals sehr häufig. Doch all diese Werke enthalten keine spezifisch lokale Küche; sie wurden gewöhnlich von (Hof und Herrschafts-) Köchen am jeweiligen Ort verfasst und von den Verlegern nach diesem benannt. Dies dürfte aus einem Marktkalkül erfolgt sein; Kochbücher wurden in allen Epochen verkauft - und ausweislich der Gebrauchsspuren selten benutzt! Warum?

Der Ursprung des/der Salzburger Nockerl ist zu erforschen. Das Unwissen überdeckt, wie so oft, eine Geschichte: die drei Spitzen symbolisierten die drei Salzburger Hausberge ...

Doch das Rezept passt ins 18. Jahrhundert, mit seiner Bescheidenheit der Zutaten, mit der ursprünglich eher geringen Zuckermenge; denn die Zuckerfabriken kamen erst im 19. Jhd. Es braucht sehr wenig, um Nockerl und am Ende einen größeren Effekt zu erzielen.

Mit dem Salzburgischen Kochbuch verfügen wir über ein gewichtiges Werk (physisch: ca. 2,5 kg.) mit ca. 2500 Rezepten, über 300 Kupferstichen, das die barocke Hofküche detailliert abbildet und Salzburg als eines der damaligen kulinarisch-gastrosophischen Zentren heraushebt. Im übrigen birgt die Rara-Sammlung der Universitätsbibliothek eine erstaunliche, kaum bearbeitete Fülle von einschlägigen historischen Werken zur „Gastrosophie" - auf diese wurde bereits in einem eigenen Werk: „FingerFertig" hingewiesen.

Mit Nockerl und Rindszunge, dem Exportartikel Salzburgs im 18. u. 19 Jhd., bei Mozart und auch noch Stifter vorkommend, jetzt als Faktum weitgehend unbekannt, hätten wir im System der „Wiener Küche", um 1900, immerhin schon die Vor- und Nachspeis - und die Erkenntnis, dass manche Gerichte, d.h. deren Ursprung samt Name, schwer zu verorten sind. Die Eponymie beschäftigt sich mit der Frage, wonach Gerichte, Kochbücher benannt und was damit ausgedrückt werden soll. Auch hier gibt es noch viel zu tun.

Damit sind wir bei der Hauptspeis: Warum heißt das Wiener Schnitzel so und woher kommt es? Manche sehen byzantinische Wurzeln, wonach sich das Blattgold von den Bildern und Ikonen gelöst und auf die Schnitzel gelegt haben müsste, als ein Zeichen von enormem Reichtum und Prunksucht! Das ist so abwegig wie die Annahme, diese Goldmenge sei medizinisch indiziert gewesen; gewiss galt Gold als adäquates Heilmittel für die Oberschicht, aber diese nahm es, in kleineren Dosierungen und in Konfekt- = Pillenform zu sich.

Was die Geschichte angeht, Feldmarschall Radetzky habe es aus Mailand mitgebracht - alles, was von den österreichischen Besitzungen in Oberitalien zu retten war - so hat sie Richard A. Zahnhausen als moderne story aus dem Jahr 1969 abgetan, die folgend nur noch abgeschrieben wurde (die déformation des metiers)!

Schöne, schnell abgekupferte (auch damals schon!) Geschichten. Selbst der kurze Blick in einige Kochbücher hätte Zweifel erwecken können. Bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts heißt darin das, was wir unter Wiener Schnitzel verstehen: gebröseltes Schnitzel oder gewöhnliches Schnitzel, dagegen gibt es ein Wiener Naturschnitzel. Erst um 1900 setzt sich der Name für diese Zubereitung durch. Die hinwiederum ist älter, sie findet sich bei Konrad Hagger für einen jungen Kapaun: im Grunde eher ein Beleg für das Backhendl.

Es ist alles wesentlich einfacher, alles war da und musste nur noch zusammengefügt werden: die Panade (sicher 18. Jhd.) auf das vorhandene Kalbsschnitzel (das entspricht den Bedingungen des service à la russe des 19. Jhd.) und das dann im Fett ausbacken. Welch komplexe Theorie allerdings aus der Missdeutung des „Rinderfettes" (korrekt: Butterschmalz) erwachsen kann, führt Richard A. Zahnhausen vor. Die Namensgebung um 1900 sieht er im Zusammenhang mit dem „Aufstieg" (und sei es nur begrifflich) der „Wiener Küche".

Ob die Panade die perfekte Maskierung für das Fleisch darstellte, um den Aspekt des Tötens auszublenden, wie ein Forscher meinte - passt nicht zur bekannten Wiener Morbidität (allerdings in Norbert Elias „Zivilisationstheorie"): es wäre so gesehen eher eine schöne Leich!

Dafür gilt jetzt die Wiener Küche! Vergangen, vorbei, museal. Etwas für Touristen. Also wirklich tot!

In „realistischer" Sicht gab es im 19. Jhd. eine „Wiener Küche": bei bürgerlichen bis kleinbürgerlichen Schichten, mit Innereien, Suppen und Mehlspeisen (die aber auch als „Münchner Küche" damals nicht anders ausgesehen hätte). Strittig ist die „Rindfleisch-Küche", ob und wenn in welcher Form es sie schon zu Beginn des 19. Jhd. gab oder ob sie erst um 1900 weitere Verbreitung fand und nach dem Ende der Monarchie durch nostalgischen Nachruhm dazu wurde (Zahnhausen, Trotta)(1). Wie auch immer: eine „Wiener Küche", ohnehin schon eine „cucina povera", hat die Notzeiten der 1914er bis 40er Jahre nicht überlebt und konnte in den 1950er Jahren nicht reanimiert werden. Vielleicht auch deswegen, weil ein neuer Begriff auftauchte - lanciert - wurde: die Österreichische Küche? Aber war das nicht ohnehin genau das, was vordem die Wiener Küche umfasste: ein Sammelsurium von eher einfachen Gerichten?

 

Wieder „realistisch" gesehen finden sich im 19. Jhd. einige Titel wie: österreichisches Kochbuch, dann wird die Wiener Küche das Markenzeichen und liefert die Titel - und danach der Koch selbst. Bis heute. Da bleibt kein Platz für das nationale Epitheton mehr! Doch das alles geschieht nicht von selbst, ist vor den gesellschaftlichen Hintergründen zu sehen.

Benennungen wie „Österreichische Küche" tauchen in den Jahren nach 1950 verstärkt auf, woraus sich die Arbeitshypothese ableitet, dies im Rahmen eines zeitgleichen Nationsbildungsprozesses Österreichs zu sehen, wozu als wesentliches Element der Identitätsbildung eine eigene Küche konstruiert wurde. Dazu passt ins Bild, dass auch österreichische Bezeichnungen für Lebensmittel in der EU erbittert zu schützen/retten gesucht wurden.

Es stehen sich divergierende Meinungen gegenüber. Eine lautet: eine „Österreichische Küche" gibt es nicht, auch nicht international als Begriff! Richard A. Zahnhausen hat infrage gestellt, dass es eine „Wiener Küche" je gab, sondern nur - in konstruktivistischer Sicht - ein mentales Produkt.

II.

Die schönen alten Geschichten finden sich allenthalben, in den Medien, der Literatur tradiert, sprich: fortlaufend abgeschrieben. Wie auch anders? Bibliographiearbeit erweist ein großes Ungleichgewicht, den vielen Kochbüchern und der belletristischen Parallelliteratur stehen wenige wissenschaftliche Abhandlungen gegenüber; grob geschätzt, dürfte das Verhältnis 80:1 betragen. Woher also Wissen nehmen, wenn der Bedarf nach story telling vorhanden und legitim - der Forschungsstand defizitär ist? Das Thema „Küche" galt und gilt vielen Wissenschaftlern als trivial - man sitzt mit den Größen der Weltgeschichte am Karten- und nicht mit den Domestiken am Küchentisch...

Das ist zu konstatieren - doch eine solche Einstellung innerhalb des Wissenschaftssystems verrät nur Defizite in Literatur- und Theoriekenntnissen. Marcel Mauss hat schon 1923 von Ernährung als einem sozialen Totalphänomen gesprochen. Es betrifft die gesamte Gesellschaft und in der Ernährung spiegeln sich mentale, soziale, wirtschaftliche, politische Veränderungen, wie auch die Ernährung selbst zu Veränderungen beiträgt - etwa in der Steigerung der Lebenserwartung - das alles hat weitreichende Konsequenzen. Dies gilt es zu reflektieren.

Der analytische Blick sieht hinter der Mehlspeisenküche des 18. Jhd. die wirtschaftlichen Probleme der Zeit. Denn (noch) immer „kostet" die Fleischerzeugung Getreide, für 1 kg. Fleisch braucht es 8 kg. Getreide (zu den sonstigen Kosten, Wasser, Gülle ... s. Liebermann, S. 48)(2). Bei zunehmender Bevölkerung und wirtschaftlichen Krisen, samt Teuerung und ungünstiger Witterungsperioden sind diese Kosten nicht mehr aufzubringen, da bleibt den Menschen nur der Verzehr des Getreides. Sie wissen sich insofern zu helfen, als sie kreativ die verschiedensten Mehlspeisen erfinden, dabei sparsam mit den teureren Zutaten umgehen. Doch auch das andere movens dafür sollte nicht übersehen werden: die vielen und langen Fastenzeiten in einer katholisch dominerten Lebenswelt.

 

Die Rindfleischküche hinwiederum verdiente einmal eine eigene Abhandlung, hier haben wir das Maussche „fait social total". Rindfleisch ist nicht Rindfleisch, das wusste man in Wien in den Schichten, in denen es überhaupt auf den Tisch kam. Es macht einen Unterschied, ob man es für eine Suppe auskocht und es dann den Domestiken (Adel, Bourgeoisie) weitergibt, ob man überhaupt ein Suppenfleisch (Klein-/Bürgertum) hat oder - wie bei überwiegenden Teil der Bevölkerung nur „Kraut und Rüben". Da bilden sich Schichten ab; und Fragen, seit wann es denn so etwas wie „Tafelspitz" gibt (20 Jhd.!) sind zunächst einmal sekundär (Zahnhausen)(3), doch lässt sich das hinwiederum als politisches Thema behandeln. Es ist zum einen Herrschaftspropaganda, die schon von Kaiser Franz Joseph ein rindfleischessendes Bild der Bescheidenheit zeichnete, wie später auch von Hitler ein vegetarisches ...

 

Vom Kaserschmarren zum Kaiserschmarrn, die „Aufwertung" zeigt, dass es Politikmarketing schon früher gab. Die Bezeichnung besonders einfacher Gerichte als „kaiserlich" - im Unterschied zum imperialen Frankreich mit den luxuriösesten Zutaten - zeigt eine Propagandalinie, die auf dem Zeichencharakter von Lebensmitteln basiert. Zum anderen lassen sich damit auch ganze Epochen beschreiben, als nostalgisch verklärte oder als armselige. Dies reicht weit in die Literatur, man braucht nur an Joseph Roth und Franz Innerhofer zu denken.

Die deutschen „Rübenwinter" des Ersten Weltkriegs steckten der Bevölkerung noch lange im Leibe. Hitler, der darum wusste, wollte, dass sich derlei nicht wiederholte und erließ entsprechende Rationierungsmaßnahmen - so traf der Hunger die von ihm und seinen Truppen Überfallenen in tödlichem Ausmaß. Er wurde, wie in Leningrad, zur Waffe, gerade gegen die Zivilbevölkerung.

Dass auch Kochbücher ihren politische Hintergrund aufweisen, belegt das Kochbuch der Katharina Prato: Die süddeutsche Küche (1858). Bemerkenswerterweise war das „großdeutsch" betitelte Werk in Österreich bis Ende der 1930er Jahre das Kochbuch schlechthin. In der damaligen, der 37., Auflage wurde vermerkt, der Titel „Süddeutsche Küche" sei jetzt nicht mehr angemessen, aber da man ohnehin nur noch „die Prato" sage ... Und dann war der Titel nicht mehr korrekt - der Inhalt überholt!

Bleibt noch zu fragen, warum sich nach 1950 der Begriff „Österreichische Küche" nicht durchsetzte? Auch das ist ein eigenes Thema! Denn wenn heute in einem einschlägigen Lexikon, wie von Udo Pini, ein Artikel „Österreichische Küche" erscheint, dann findet sich gewöhnlich nur eine Auflistung, mit Betonung auf den Mehlspeisen, dem Rindfleisch, dem Wiener Schnitzel - also eigentlich das, was nach 1920 als „Wiener Küche" interpretiert wurde (vgl. Zahnhausen, Trotta)(4).

III.

Über die längsten historischen Epochen hin lebte der Großteil der Menschen am Existenzminimum. Nahrungsmangel, Hungersnöte, das, was wir heute aus der Dritten Welt kennen, war hier Teil des Alltags. Noch um 1950 machten die Lebensmittel in Österreich ca. 45% der Haushaltsausgaben aus - jetzt sind es ca. 13%. Was frei wurde, übernahmen die Mobilität und dann die Kommunikationselektronik.

Die für Jahrtausende konditionierende Norm: wenig fette und viel magere Zeiten; sie sind hier und jetzt vorbei. Wir haben es weit gebracht. In unserer Gesellschaft ist ein alter Menschheitstraum wahr geworden. Wir haben immer genug - und mehr als genug zu essen.

Den früheren Traum zeigt das Bild von Pieter Breughel: das Schlaraffenland. Die Menschen liegen saturiert, voll gefressen auf dem Rücken. Es bewegen sich nur noch die gebratenen Hühner. Bei einigem Überlegen wird das Bild zum Ausdruck eines Albtraums. Wenn sich nur noch Hühner aus Massentierhaltung am Bratspieß drehen und diese vom „Pizza-Express" nebst anderem junk food den couch potatoes frei Haus geliefert werden, dann warten auf diese schlaffen Schlaraffen Gicht, Adipositas, Diabetes, Herztod. Ein Übergewicht, wie es sich früher nur Könige leisten konnten, um durch den Umfang ihres Körpers auch den ihrer Macht zu repräsentierten, ist Allgemeingut geworden!

Unser Schlaraffenland ist der Supermarkt, vollgeräumt mit Waren aus aller Welt. Die Doppelbödigkeit des Bildes Breughels geht weiter. Womit werden die Tiere in Massenhaltung gefüttert? Mit Kraftfutter - und woher kommt dieses? Das frühere regionale, spätere „nationale" Ungleichgewicht wurde zum globalen. Die Reichen fressen den Ärmeren deren Ressourcen weg. Die Verteilung des Reichtums entspricht heute noch dem in spätmittelalterlichen - und wahrscheinlich schon römischen - Städten, nur eben im vergrößerten Welt-Maßstab. Die Verteilung der Lebensmittel, die Distribution hat sich - so gesehen - auch nicht geändert. Immer noch hungern Menschen, einige bei uns, Millionen in der Dritten Welt. Der durchschnittliche Deutsche konsumiert pro Jahr 86 kg. Fleisch und Wurst, in Österreich werden pro Jahr 833.000 Tonnen Fleisch konsumiert (http://www.oe24.at/gesund/Oesterreicher_essen_tonnenweise_Fleisch_377509.ece). Ein mittlerer deutscher Mastbetrieb mit 5000 Kälbern braucht pro Jahr ca. 10 Millionen Liter Wasser - und das Abwasser, die Gülle ... (s. Liebermann)(2).

Warum aber dieses Verzehrmuster? Warum hielt es sich, obwohl überall zu lesen ist, wie ungesund, ja tödlich das sei ...?

Es gibt keine einfache Antwort. Weil man immer wenig hatte, träumte man vom Viel! Immer noch muss viel Fleisch auf den Teller, aus Gewohnheit, aus der archaischen Vorstellung, dies gebe Kraft, sei „männlich" ... Manche Werbestrategien greifen auf diese Muster zurück: mehr zum gleichen Preis ... Das Denken in Quantitäten hat sich gehalten. Brauchen wir nicht jetzt die Betonung der Qualität? Weniger aber besser! Damit verbunden wäre eine Rückkehr zur „mageren" Küche, einer mehr vegetarischen. Doch das dürfte für viele nur einen unnötigen „Rückschritt" in für überwunden gehaltene Zeiten darstellen - wie die Salzburger Nockerl ein lokaltypisches Gericht, überwiegend für „sound of music"-Touristen.

Es geht immer noch zu oft um Quantität: beim adipösen wie beim bulimischen, anorektischen Körper, letztere kennen wir aus der Geschichte - bei weiblichen Heiligen, als Ausdruck der Ablehnung des Fleisches und des Körpers. Bilder vom Körper haben eine lange Tradition in unserer Kulturgeschichte und wirken nach wie vor auf die realen Körper ein! Bewusst oder werbeinduziert!

Existierte kein gesellschaftlich - normierendes Schönheitsideal und Körperbild, könnten die vielen Diätratgeber kaum ihre Käufer, Käuferinnen finden; da aber dieses Körperbild, wie es ebenfalls Forschungen bewiesen haben, im Grunde für die Mehrzahl der Bevölkerung biologisch nicht erreichbar ist - bleibt der Markt offen.

Die Diäten wechseln wie die Mode. Manches kommt wieder in den Blick. Kaum jemand weiß noch, dass es in unserem Kulturkreis für ca. 2500 Jahre ein Vier-Elemente-System gab, nach dem die Nahrungsmittel klassifiziert wurden, als ein Teil der Diätetik. Die Hildegard-Medizin gehört dazu. Doch würde deren System ernst genommen und entsprechend umgesetzt, stünde das Heil der Seele aller Diätetik voran: also zunächst innere, religiöse Einkehr. Und dann weder Erdbeeren, noch Pflaumen, noch Marillen, noch Schnecken ... denn die erzeugen Fäulnis im Menschen und diese bildet nach dem Sündenfall Adams den Grundzustand. Dieses System hat das naturwissenschaftliche 19. Jhd. nicht überlebt und ist darüber in Vergessenheit geraten. Da es aber für einen langen Zeitraum auf die Ernährung einwirkte, verdient es künftig eigene Untersuchungen.

Das chinesische System - TCM - auch sehr alt, wurde unter Mao modernisiert, dabei um magische, mystische Elemente bereinigt, die zu solch „archaischen" Systemen gehören. Somit erwies es sich als „anschlussfähig", exportierbar und stieß auf wesentliche Leere - das entsprechende Vier-Elemente-System war abgetan!

Lichtenberg hat - wieder einmal avant la lettre - im 18. Jhd. den Kommentar dazu gegeben: Es macht den Unterschied, ob man noch - oder schon wieder an die Wirksamkeit des Mondes glaubt...

Der Bereich des Aberglaubens, der magischen Wirkungen, der Esoterik ist lebendig. Wie funktioniert eigentlich Granderwasser? Alles zu beantwortende Fragen ...

IV.

Die Vergangenheit wirkt in die Gegenwart und wird - nicht kritisch reflektiert - noch die Zukunft bestimmen. Die Angst vor Vergiftung ist uralt und Angstmacherei ein hervorragendes Geschäftsprinzip. Bei Nahrungsmitteln funktioniert dies besonders gut - ein Blick in die Medien genügt!

An katastrophischer Literatur, die den üblen Zustand einer untergehenden Welt beklagt, fehlt(e) es nie. Historikern kommt dieser Ton sehr vertraut vor, er findet sich immer wieder in der Geschichte. Doch wir wollen nicht in den Tenor einstimmen. Ein Gastrosoph übt nicht die Funktion einer Kassandra aus. Mögen manche das „Projekt Aufklärung" als abgetan erklären, so sind wir doch so weit fortgeschritten, dass wir uns über die „Aufklärung" so weit im Klaren sind, dass wir nicht nur im „Bewusstsein der Freiheit", sondern tatsächlich auch in realer, politischer, persönlicher vorangekommen sind. (Dies ohngeachtet dessen, was manche wiederum daraus machen, was anderen obige Meinung ermöglicht.) Warum also sollte das, was hier erreicht wurde, aber auch noch zu erreichen ist, nicht auch im globalen Maßstab möglich werden?

Wir haben in den letzten Dekaden große Umbrüche erlebt und sind in einem. Das Geld, das jetzt in die Wirtschaft gepumpt wird, sollte für die Entwicklungshilfe nicht fehlen. Die Kraft, aber auch die Gewalt von Hungerrevolten und -revolutionen ist aus der Geschichte bekannt.

Viele Veränderungsprozesse laufen momentan gleichzeitig, wir lesen, sehen all die Berichte ... Die Medien sind voll davon, und in Gesprächen mit deren Vertretern meinen diese: weil es zu sehen, zu lesen sei, wüssten wir ohnehin alles. Nur es wird dort einfach wiedergegeben, reportiert, oft irgendwoher übernommen, bleibt neben einander, unverbunden, ungewichtet stehen. Wenn es tiefer gehen soll, erscheinen eigene Meinungen bis hin zu Vorurteilen, oft gewonnen aus Google oder Wikipedia - da bleiben Fehler nicht aus. Eine Untersuchung der University of California belegte eine völlige Unübersichtlichkeit für die Konsumenten, diese finden sich im Rauschen der Medien nicht mehr zurecht und wissen nicht, was sie noch essen dürfen, sollen, müssen ...?

Wir haben die Diskussion über Genfood, wir haben die Diskussion über functional food, haben die alarmistischen Meldungen über diverse Gifte und Gammelfleisch. Wir haben das Greißlersterben und das Aufkommen der Supermärkte gesehen - und wissen, dass bei ersteren vordem Lebensmittelfälschungen in großem Ausmaß erfolgten, die Lebensmittelsicherheit jetzt sehr hoch ist. Wir haben gute regionale Produkte, alte und viele neue durch die Globalisierung; dazu das Problem mit Überproduktion und der Preisfindung, mit der alle im Handel Beteiligten von den Erzeugern bis hin zu den Konsumenten leben müssen. Wir sehen die großen internationalen Konzerne wie Nestlé oder Parmalat, die Saatguterzeuger und -händler auf der Gewinner-, die Kleinbauern auf der Verliererseite. Protektionistische Maßnahmen machten bei uns die Lebensmittel billiger, in ärmeren Ländern teurer.

Das ermöglicht hier den quantitativen Konsum. Diesen belegt ein Blick auf das Laufband an der Supermarktkassa und ein zweiter auf den/die BeladerIn. Die Menge von Kartoffelchips und Limonaden überrascht manchmal - das alles lässt sich mit den Stunden von Fernsehkonsum korrelieren und das wiederum mit Bewegungsmangel. Auf der anderen Seite ernähren sich Leute, die angeblich nie einen Fuß dort hineinsetzen auch nicht besser - sie meinen es nur. Da tritt die „kognitive Dissonanz" auf: Die Medien berichten, jede/r kann wissen, wie man sich richtig ernährt - nur zu wenige tun es. Warum ist das so? Viele mögliche Antworten: Weil uns die Informationen überfluten, weil wir die alten „üppigen" Körperbilder - die Widersprüche dazu, zu viel Stress oder vielleicht auch zu viel Anweisungen, Ratschläge, Normen haben und ebenso viele Schokoriegel und Zigaretten? Da spielen Fragen der Ethik herein, des Normativen. Darf man Raucher zu ihrer Gesundheit zwingen? Die Kosten der Fehl- und Falschernährung belasten das Gesundheitsbudget, die Staatsfinanzen, damit die Steuerzahler mit hohen Milliardenbeträgen. Denn es kommt teurer, immer nur die Maladen am Ende zu therapieren.

Man muss bei den Kindern beginnen. Redet man mit KindergärtnerInnen, dann stimmen fast alle Berichte überein: Kinder aus bestimmbaren Schichten bekommen gar nichts mit, die aus anderen Schokoriegel, Kinderschnitten usw., Schüler holen sich Eistee, Leberkässemmeln, Kartoffelchips...

Dass der Geschmacksinn dabei reduziert wird, ist bekannt, dass das zu Gesundheitsproblemen führen wird ebenso - nur für Geschmacksschulung fehlt das Geld. Das Bemühen und die Resultate von Jamie Oliver in England erweisen ganz praktisch, wie wichtig die Ernährung von Kindern ist - von denen hier an die 30% zu viel auf die Waage bringen. Wie ändert man das? Nicht durch Appelle - und Köche, die sich analog Oliver profilieren wollen. Es muss in Prävention investiert werden - auch dafür fehlt Geld! Auf der anderen Seite liest man in den bunten Magazinen, welcher Hersteller wieder einmal mit welchem Starkoch für welche (ab-gehobene) Schicht einen Kochevent abhielt ... Dessen Effekt dürfte in  der Gewinnung von Farbbildern liegen!  Ob das heute noch die richtige PR ist, bleibt dahingestellt.

V.

Braucht es ob all dieser Um- und Zustände nicht den gut unterrichteten, „denkenden Betrachter", den „Philosophen" mit seinen „wichtigen Aufschlüssen", um zu den „reichen Quellen des edelsten Vergnügens" zu kommen? Kurz gesagt: braucht es nicht Gastrosophie, um zu wissen und zu genießen?

Wir verstehen darunter das Zusammenwirken und fundierte Nach- und Zusammen-Denken aller natur- wie geisteswissenschaftlichen Fächer und Disziplinen, die sich auf Ernährung beziehen und damit beschäftigen. Dies betrifft alle Aspekte von der Erzeugung, der Verarbeitung, der Distribution bis hin zum Konsum, von der „materiellen", der technischen Seite, bis hin zur ideellen, mentalen, zu Prägungen, Vor- und Einstellungen, Werten in verschiedenen Epochen und Gesellschaften, in den diversen „Lebenswelten" (dabei stützen wir uns auf Aussagen von Eva Barlösius und Harald Lemke)(6).

Wir wollen keine eigene Wissenschaft einführen, sondern Interdisziplinarität praktizieren, dazu braucht es alle Disziplinen, die sich mit Ernährung und deren Kultur beschäftigen, gerade auch die Naturwissenschaften. Der Forschungsbedarf ist groß und erfordert die Zusammenarbeit. Das Zentrum soll eine Plattform und Organisationsbasis schaffen.

Die Wissenschaft hat allen Grund sich mit den grundsätzlichen und grundlegenden Fragen - Ernährung gehört essentiell dazu - zu beschäftigen. Um nur die gebrachten Beispiele aufzugreifen: die schönen Mythen, die stories (samt Bildern) in den Kochbüchern, der gastronomischen Literatur, im Marketing. Wann, warum, nach welchen Gesichtspunkten und nach welchen Prinzipien werden/wurden solche „stories" konstruiert? Sie entsprechen bestimmten - politischen, wirtschaftlichen, mentalen - Bedürfnissen, unterliegen bestimmten Erzähl- und Plotstrukturen. Es braucht also die Narrativitätsforschung.

Entsprechen diese Geschichten einem - verstärkten - Bedürfnis nach Identität? Dieser Begriff selbst ist hinsichtlich unseres Themas noch zu definieren! Was ist individuelle, was kollektive Identität, wie werden diese gebildet? Wie ist das in den politischen Feldern, angesichts der Globalisierung zu verorten?

Identität verbindet sich dann mit Region. Die „realistische" Position sieht Regionen als fixe historische Gebilde, in denen seit altersher handwerkliche, authentische Produkte entstehen. Nach Umfragen werden jetzt regionale vor biologischen Erzeugnissen bevorzugt. Doch besteht die ernsthafte Frage, ob hier nicht auch nur eine „invention of tradition" vorliegt? Fragen für den Kongress im November 2009 - und 2010 ist das Thema: „Wie speist der Geist"!

Es lassen sich hier nicht all unsere Vorhaben auflisten, darüber, etwa über den Universitätslehrgang, berichtet unsere homepage. Wir haben Ambitionen, vielleicht mit utopischem Charakter, aber mit Ernst Bloch gesagt, braucht es der Utopien, um die Richtung zu haben, in die man gehen will. Es gibt viel zu tun, aber gemeinsam werden wir vorankommen - und die ersten Erfahrungen ermutigen und ermuntern. Denn wenn wir weiterhin mit so vielen Menschen sprechen und handeln können, die unser Anliegen teilen und fördern, bilden diese die „reichen Quellen des edelsten Vergnügens".

Im Grunde geht es um die antike - aber immer noch aktuelle Frage: Was macht ein gutes Leben aus? Inneres und äußeres, seelisches und körperliches Gleichgewicht, Ausgewogenheit: die Homöostase! Gute Ernährung, Essen und Trinken, gute Gesellschaft, gute Gespräche tragen dazu bei. Qualität ist wichtig, die des Essens, die des Lebens. Lebenslust (mit Epikur) und Genuss (mit Michel Onfray: raison gourmande) gehören ganz wesentlich dazu. Und das geht alle an!

Wir haben Ziele, wissen um die Beschränktheit der Ressourcen. Vielleicht gelingt es uns, das Beispiel vom Salzburger Nockerl zu nehmen, mit den Zutaten, über die man verfügt, am Ende ein doch beachtenswertes Ergebnis zu erzielen.

Literatur

Barlösius Eva, Soziologie des Essens. Eine sozial- und kulturwissenschaftliche Einführung in die Ernährungsforschung, Weinheim/München 1999

Hagger Conrad, Neues Saltzburgisches Koch-Buch ..., Augsburg 1719

Innerhofer Franz, Schöne Tage, Salzburg 1974

Kolmer Lothar, Rohr Christian, Mahl und Repräsentation. Der Kult ums Essen, Paderborn 22001

Kolmer Lothar (Hg.), FingerFertig. Eine Kulturgeschichte der Serviette, Wien 2008

Lemke Harald, Ethik des Essens. Einführung in die Gastrosophie, Berlin 2007

Liebermann Silvia u.a., Die Bio-Macher. Was bewusste Genießer wissen sollten, München 2008

Maier- Bruck Franz, Vom Essen auf dem Lande, Wien 1995

Onfray Michel, Der sinnliche Philosoph: Über die Kunst des Genießens, Frankfurt 1992

Onfray Michel, Die genießerische Vernunft. Die Philosophie des guten Geschmacks, Frankfurt 1996

Pini Udo, Das Gourmet Handbuch, Königswinter 42004

Prato Katharina, Die süddeutsche Küche, Graz 1858

Roth Joseph, Radetzky Marsch , Berlin 1932

Strobl  Anna, Die praktische Wiener Küche. Universalkochbuch für den besseren Bürgerstand, Wien o. J.

Thoms Ulrike, Dünn und dick, schön und hässlich. Schönheitsideal und Körpersilhouette in der Werbung 1850-1950, in: Borscheid Peter, Wischermann Clemens (Hg.), Bilderwelt des Alltags. Werbung in der Konsumgesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts. Festschrift für Hans Jürgen Teuteberg, Stuttgart 1995 (Studien zur Geschichte des Alltags, Bd. 13) 242-282

Zahnhausen Richard A., Das Wiener Schnitzel. Struktur und Geschichte einer alltäglichen Speise, in: Wiener Geschichtsblätter 2001, 132-146

Zahnhausen Richard A., Was aß Baron von Trotta wirklich am Sonntag? Anmerkungen zum Tafelspitz und zur longue durée des gekochten Rindfleisches in der Wiener Küche, in: Wiener Geschichtsblätter 2003, 81-93

 

Quellen, Anmerkungen

  1. Zahnhausen Richard A., Was aß Baron von Trotta wirklich am Sonntag? Anmerkungen zum Tafelspitz und zur longue durée des gekochten Rindfleisches in der Wiener Küche, in: Wiener Geschichtsblätter 2003, 81-93  
  2. Liebermann Silvia u.a., Die Bio-Macher. Was bewusste Genießer wissen sollten, München 2008  
  3. Zahnhausen Richard A., Das Wiener Schnitzel. Struktur und Geschichte einer alltäglichen Speise, in: Wiener Geschichtsblätter 2001, 132-146  
  4. Zahnhausen Richard A., Was aß Baron von Trotta wirklich am Sonntag? Anmerkungen zum Tafelspitz und zur longue durée des gekochten Rindfleisches in der Wiener Küche, in: Wiener Geschichtsblätter 2003, 81-93   
  5. Liebermann Silvia u.a., Die Bio-Macher. Was bewusste Genießer wissen sollten, München 2008  
  6. Barlösius Eva, Soziologie des Essens. Eine sozial- und kulturwissenschaftliche Einführung in die Ernährungsforschung, Weinheim/München 1999
    Lemke Harald, Ethik des Essens. Einführung in die Gastrosophie, Berlin 2007